Gesetzlicher Unfallversicherungsschutz auf sog. Abwegen

Wenn der Versicherte in der Gesetzlichen Unfallversicherung sich nicht mehr auf direktem (unmittelbaren) Weg in Richtung seiner Arbeitsstätte bewegt, sondern in entgegengesetzter Richtung von seinem Ziel fort, befindet er sich auf einem sog. Abweg. Erst wenn sich der Versicherte wieder auf dem direkten Weg befindet und der Abweg beendet ist, besteht erneut Versicherungsschutz.

Kein Abweg, sondern ausnahmsweise ein versicherter Wegeunfall liegt vor, wenn der Ort der Tätigkeit nicht erreicht wird, weil sich im Gesundheitszustand des Versicherten Umstände gezeigt haben, welche die Rückkehr nach Hause erforderlich machten. Lässt sich eine solche Ausnahme nicht im Vollbeweis feststellen, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, muss die Umkehr nach Beweislastgrundsätzen als unversicherter Abweg gelten, so das LSG Nordrhein-Westfalen in einer aktuellen Entscheidung.

Der Fall: Arbeitnehmerin verunglückt nach Wendemanöver

Die Klägerin war als Aushilfe bei der K beschäftigt. Ihre Arbeitsstätte war der ca. 5 km von der Familienwohnung entfernt gelegene Supermarkt. Arbeitsbeginn am 24.06.2019 war um 09:00 Uhr. Am Morgen dieses Tages verließ die Klägerin die Familienwohnung und fuhr mit dem PKW zunächst in Richtung ihrer Arbeitsstätte. In der Ortschaft W. wendete sie ihr Fahrzeug auf einem Hofgelände und fuhr zurück in ihre Wohnung.

Kurz nach dem Wendemanöver geriet der von ihr gesteuerte PKW aus ungeklärten Gründen nach rechts von der Fahrbahn ab und prallte gegen einen Straßenbaum. Sie erlitt hierbei schwerste Verletzungen, u. a. ein Schädel-Hirn-Trauma mit hypoxischem Hirnschaden. Aufgrund der Hirnschäden kann die Klägerin keine Angaben zum Geschehen machen. Nach den Feststellungen im Vermerk des Polizeihauptkommissars A vom 26.06.2019 war die Klägerin im Unfallzeitpunkt nicht angeschnallt. Die Untersuchung des Fahrzeugs ergab keine Hinweise auf unfallursächliche Mängel.

In dem von dem Ehemann der Klägerin am 04.07.2019 unterzeichneten Fragebogen heißt es, dass die Klägerin von zu Hause zur Arbeit gefahren sei, in W. gedreht habe und zurück nach Hause gefahren sei. Der Ehemann der Klägerin vermerkte, dass die Klägerin den Weg zur Arbeit abgebrochen und wegen Unwohlsein nach Hause habe zurückkehren wollen. Am 21.06.2019 nachmittags gegen 16 Uhr habe sie Kreislaufprobleme gehabt, ihr sei schwarz vor Augen geworden und sie sei umgefallen.

Mit Bescheid vom 09.07.2019 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Unfalls vom 24.06.2019 als Arbeitsunfall und die Gewährung von Entschädigungsleistungen ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Klägerin zum Unfallzeitpunkt nicht in Richtung Arbeitsstätte, sondern in Richtung Wohnanschrift gefahren sei. Sie habe sich somit nicht auf dem direkten Weg zur Arbeitsstätte, sondern auf einem Abweg befunden. Wohin sie sich zum Unfallzeitpunkt tatsächlich habe begeben wollen, könne dahingestellt bleiben. Zum Zeitpunkt des Unfalls habe sie nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden, Leistungen der Berufsgenossenschaft seien nicht zu erbringen. Das SG Dortmund (Urteil vom 20.11.2020, Az. S 17 U 2/20) hat die Klage abgewiesen.

LSG: Die Klägerin scheitert, weil sie die Beweggründe für den Abweg nicht beweisen kann

Das LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 20.7.2021, Az. L 15 U 594/20) prüft lehrbuchmäßig das Vorliegen eines - versicherten - Wegeunfalls und lehnt dieses dann ab. Die Klägerin hätte trotz der Benutzung der üblichen Wegstrecke vom Ort der Tätigkeit zum Wohnort nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden, weil die Rückkehr in diesem Fall aus eigenwirtschaftlichen, nicht mit ihrer Tätigkeit zusammenhängenden Gründen erfolgt sei. Denn auch eine Verrichtung, die allgemein zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit dient, wie z.B. eine ärztliche Behandlung, gehört nach der Rechtsprechung des BSG grundsätzlich zum unversicherten persönlichen Lebensbereich. Dass die Maßnahme mittelbar auch der Erhaltung oder Wiederherstellung der Arbeitskraft dient, ist dabei unerheblich.

Die Nichterweislichkeit der für das Wendemanöver und die Fortbewegung in die der Arbeitsstätte entgegengesetzten Fahrtrichtung maßgebenden Umstände geht nach den in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung angewandten „Grundsätzen der objektiven Beweislastverteilung“ zu Lasten der Klägerin. Den Nachteil aus der tatsächlichen Unaufklärbarkeit anspruchsbegründender Tatsachen hat nach den Regeln der objektiven Beweislast der sich auf deren Vorliegen berufende Versicherte zu tragen. Dies gelte auch, wenn nach Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten die Nichterweislichkeit - wie hier - darauf beruht, dass der Versicherte keine Erinnerung an das zu dem Unfall führende Geschehen hat.

Praxishinweis: Beweisprobleme wiegen schwer!

Die Entscheidung ist ein gutes Beispiel dafür, dass denkbare Ansprüche gegen die Gesetzliche Unfallversicherung bereits daran scheitern können, dass sie nicht beweisbar sind. Bei Arbeitsunfällen aber auch Wegeunfällen sollte deswegen immer daran gedacht werden, alle damit im Zusammenhang stehenden Umstände zu dokumentieren und sich mögliche Zeugen zu merken, weil es schlimmstenfalls darauf ankommen kann, alles beweisen zu müssen.

Nicht selten wird die Erstbehandlung nach einem Arbeits- oder Wegeunfall vom Hausarzt oder einem Krankenhausarzt durchgeführt. Hier sollte patientenseitig immer darauf hingewiesen werden, dass es sich um einen Arbeits- oder Wegunfall handeln könne und auch schnellstmöglich der Arbeitgeber informiert werden.

Schlagworte zum Thema:  Wegeunfall, Arbeitsschutz, Rechtsprechung