Ein Streitgespräch als Arbeitsunfall?

Ein Streitgespräch mit einem Vorgesetzten kann nach einem Urteil des BSG ein von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis sein. Schon bloße Wahrnehmungen (wie z.B. Sehen, oder Hören) können danach äußere Ereignisse darstellen. Für die erforderliche Einwirkung von außen genügt es, dass die versicherte Person gesprochene Worte wahrnimmt und sich dadurch der Körperzustand verändert.

Der Fall: Herzattacke nach Streit mit einem Vorgesetzten

Die klagende Bankkauffrau war nach einem Streit mit dem Vorgesetzten mit einem Herzstillstand auf ihrem Schreibtischstuhl zusammengebrochen. Nach der Wiederbelebung durch einen Notarzt wurde ihr im Krankenhaus gegen die Herzrhythmusstörungen ein Defibrillator eingesetzt. Die Klägerin macht geltend, dass der Tag ihrer Herzattacke bereits sehr stressig war und dass ein sehr kontroverses Gespräch mit dem Stellvertreter ihrer Abteilungsleiterin stattfand, bei dem sie einen Kollegen in Schutz genommen hatte, bei dem eine Kassendifferenz festgestellt worden war.

Der Gesprächspartner bestätigte vor dem Landessozialgericht, dass zwischen ihm und der Klägerin „unterschiedliche Standpunkte in sachlichem und angemessenem Ton ausgetauscht worden“ seien. Dabei habe die Klägerin sichtlich erregt reagiert. Das Gespräch endete „unschön, unharmonisch und frostig“, was eher alltäglich sei.

Die beklagte Berufsgenossenschaft lehnt die Anerkennung eines Arbeitsunfalls ab, ebenso das Sozialgericht und das Landessozialgericht. Für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls mangele es bereits am Tatbestandsmerkmal eines von außen auf den Körper einwirkenden Ereignisses. Zwar könne auch eine geistig-seelische Einwirkung genügen. Das setzt aber eine Extremsituation wie z.B. eine Geiselnahme, einen Amoklauf, das Erleben einer Todesgefahr usw. voraus, verbale Differenzen seien hingegen üblich.

BSG: Es muss kein extremes Geschehen vorliegen

Das Bundessozialgericht (Urteil vom 6.5.2021 (Az. B 2 U 15/19 R)) hob auf die Revision der Klägerin die Entscheidung auf und verweist den Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung zurück an das Landessozialgericht.

Die bisher als entscheidungserheblich angesehene Frage danach, ob das Gespräch „ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis“ i.S.d. § 8 Abs. 1 S. 2 SGB VII darstelle, widerspricht das BSG den Vorinstanzen: Für den Unfallbegriff ist es nicht konstitutiv, dass ein besonders ungewöhnliches Geschehen vorliegt. Es genügt ein alltäglicher Vorgang. Es müsse kein besonderes, ungewöhnliches oder gar „extremes“ Geschehen vorliegt.

Für die erforderliche Einwirkung von außen genügt es, dass die Klägerin die gesprochenen Worte mit den Hörzellen ihrer Ohren und die Gestik sowie Mimik ihres Gesprächspartners mit den Sehzellen ihrer Augen wahrnahm, so dass sich ihr physiologischer Körperzustand änderte. Bereits bloße Wahrnehmungen können „äußere Ereignisse“ darstellen. Das hier streitgegenständliche Gespräch sei ein solches äußeres Ereignis, auf welches die Klägerin ja auch psychisch erregt reagierte.

Dem BSG fehlen weitere Feststellungen zum Inhalt des Gesprächs und den sonstigen Umständen. Ging es tatsächlich „nur“ um einen Arbeitskollegen, dürfte der betriebliche Zusammenhang zu verneinen sein, so dass der Unfall kein „Arbeitsunfall“ ist. Allerdings käme auch in diesem Fall Versicherungsschutz unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung eigener unternehmensbezogener Rechte bei der Regelung innerbetrieblicher Belange bzw. sozialer Angelegenheiten in Betracht.

Im Arbeitsverhältnis dürfte i.d.R. „Jedermann“ als mündiger Beschäftigter und mündige Beschäftigte berechtigt sein, auf vermeintliche Missstände hinzuweisen, mutmaßliche Fehlentwicklungen unternehmensintern zur Sprache zu bringen und sich ad hoc mit anderen zu solidarisieren, insbesondere wenn es um Arbeitsbedingungen und den fairen Umgang mit Arbeitskollegen geht.

Wichtig für die betriebliche Praxis

Das Landessozialgericht wird nun zu klären haben, inwieweit das Gespräch einen betrieblichen Bezug hatte, zumindest wird die Frage zu klären sein, ob innerbetriebliche Belange betroffen waren.

Mit diesem Urteil bestätigt das BSG allerdings nochmals seine bereits im Urteil vom 29.11.2011 (Az. B 2 U 23/10 R) getroffene Entscheidung, dass es für eine äußere Einwirkung i.S.d. § 8 Abs. 1 S.  2 SGB VII nicht unbedingt eines äußerlichen - mit den Augen sichtbaren - Geschehens bedürfe, sondern dass aus Sicht des Versicherten eine konkrete Gefahrensituation (wie etwa ein Beinaheunfall) vorlag und sich für ihn scheinbar auch verwirklicht hat.

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