Der besondere Schutz schwerbehinderter Beschäftigter

§ 168 SGB IX, wonach die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts bedarf, gehört zu den Vorschriften, die Verfahrenspflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten. Hat der Arbeitgeber vor Ausspruch einer Kündigung die nach § 168 SGB IX erforderliche vorherige Zustimmung des Integrationsamts nicht eingeholt, kann dieser Umstand nach einem aktuellen Urteil des Bundesarbeitsgerichts eine Vermutung nach § 22 AGG begründen, dass die Benachteiligung, die der schwerbehinderte Mensch durch die Kündigung erfahren hat, wegen eben dieser Schwerbehinderung erfolgte.

Der Fall: Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers ohne Einschaltung des Integrationsamtes?

Im Fall ist strittig, ob der Kläger eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG aufgrund einer Benachteiligung wegen einer Schwerbehinderung erhält. Der Kläger war bei dem Beklagten als Hausmeister beschäftigt. Seit dem 11.2.2018 war er nach einem Schlagunfall arbeitsunfähig erkrankt. Hierüber wurden Mitarbeiter des Beklagten am 12.2.2018 durch die spätere vorläufige Betreuerin des Klägers telefonisch in Kenntnis gesetzt. Ende März/Anfang April 2018 kündigte der Beklagte das mit dem Kläger bestehende Arbeitsverhältnis betriebsbedingt. Der Kläger wandte sich mit einer Kündigungsschutzklage gegen die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses. Dieses Verfahren wurde durch einen Vergleich vor dem ArbG erledigt.

Seine auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG gerichtete Klage stützt der Kläger nun darauf, dass der Beklagte ihn wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt habe. Dies ergebe sich daraus, dass der Beklagte vor der Kündigung seines Arbeitsverhältnisses nicht die Zustimmung des Integrationsamts eingeholt hat. Zwar habe zum Kündigungszeitpunkt noch kein Nachweis seiner Schwerbehinderung durch eine behördliche Feststellung vorgelegen. Allerdings sei diese zum Zeitpunkt der Kündigung offenkundig gewesen. Das Arbeitsgericht und das Landesarbeitsgericht Sachsen-Anhalt wiesen diese Klage ab (Urteil vom 26.1.2021, Az. 6 Sa 29/19).

BAG: Keine Entschädigung, da Schwerbehinderung nicht nachgewiesen

Nach Ansicht des BAG hat der Kläger keinen Anspruch gegen den Beklagten auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG (BAG, Urteil vom 2.6.2022, Az. 8 AZR 191/21).

Der Kläger habe zwar durch die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses eine unmittelbare Benachteiligung nach § 3 Abs. 1 AGG erfahren.  Er habe jedoch nicht dargelegt, dass die Benachteiligung wegen seiner Schwerbehinderung erfolgt sei.

Zwar könne der Verstoß des Arbeitgebers gegen § 168 SGB IX im Einzelfall die Vermutung nach § 22 AGG begründen, dass die Schwerbehinderung (mit)ursächlich für die Benachteiligung war. Allerdings habe der Kläger einen Verstoß des Beklagten gegen diese Bestimmung nicht ausreichend nachgewiesen. Selbst wenn es zutreffen sollte, dass der Kläger am 11.2.2018 einen Schlaganfall erlitten und noch am 12.2.2018 mit halbseitiger Lähmung auf der Intensivstation behandelt wurde, liegen nach Ansicht des BAG keine Umstände vor, nach denen im Zeitpunkt der Kündigung durch den Beklagten von einer offenkundigen Schwerbehinderung auszugehen war. Gemäß § 173 Abs. 3 SGB IX finden nämlich die Vorschriften über den besonderen Kündigungsschutz keine Anwendung, wenn zum Zeitpunkt der Kündigung die Schwerbehinderteneigenschaft noch nicht nachgewiesen war oder eine Entscheidung des Versorgungsamtes wegen mangelnder Mitwirkung durch den Betroffenen (noch) nicht getroffen werden konnte.

Wichtig für die Praxis

Der Schutz schwerbehinderter Beschäftigter ist eine besonders wichtige Disziplin des Arbeitsschutzrechts. Dieser wird immer weiter entwickelt - auch und gerade von der Rechtsprechung.

Auch wenn das BAG im vorliegenden Fall aus eher formalen Erwägungen heraus eine Entschädigung - zutreffend - abgelehnt hat, dehnt es mit dieser Entscheidung den diskriminierungsrechtlichen Schutz schwerbehinderter Beschäftigter weiter aus. Dieser war bislang vor allem bei Bewerbungsverfahren thematisiert und entschieden worden (z.B. BAG, Urteil vom 15.2.2005, Az. 9 AZR 65/03) und ist nun auch bei Kündigungen virulent, die ohne den besonderen Schutzmechanismus für schwerbehinderte Beschäftigte ablaufen.

Nicht ohne Grund ist die betriebliche Schwerbehindertenvertretung nach § 178 Abs. 4 SGB IX berechtigt, an den Sitzungen des Arbeitsschutzausschusses nach § 11 ASiG teilzunehmen. Es ist hier nicht zuletzt ihre Aufgabe, immer wieder darauf zu dringen, dass besondere Schutzrechte nach dem SGB IX in der betrieblichen Praxis auch berücksichtigt werden.