Anerkennung einer "Wie-BK" aufgrund von Arbeitsschutzvorschriften

Ein Schaden an der Halswirbelsäule einer Getränkeverräumerin, der nicht durch das Tragen schwerer Lasten auf der Schulter entsteht, sondern seine Ursache im alleinigen Tragen, Ziehen oder Schieben schwerer Lasten hat, ist keine Listen-BK. Ein solcher Schaden sei auch nicht als eine sog. "Wie-BK" anzuerkennen. Arbeitsschutzvorschriften wie die Lastenhandhabungsverordnung sind keine neuen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft.

Derartige Schutzvorschriften dienen der Vermeidung drohender Gesundheitsschäden der Beschäftigten. Dass bestimmte Belastungen danach ausgeschlossen oder vermieden werden sollen, bedeute nicht zugleich, dass die besondere Gruppentypik einer "Wie-BK" anzunehmen ist.

Der Fall: Die Klägerin begehrt die Anerkennung einer Halswirbelsäulen(HWS)-Erkrankung als Wie-BK

Die Klägerin arbeitet seit Februar 2013 als Verkäuferin im E A J in F . Sie macht geltend, dort fortlaufend wirbelsäulenbelastend mit Verräumen von Getränkekisten beschäftigt gewesen zu sein. Seit dem 03.05.2016 war die Klägerin wegen verschiedener Erkrankungen, u.a. einem Karpaltunnelsyndrom, Neurasthenie und Wirbelsäulenbeschwerden, arbeitsunfähig erkrankt. Seit September 2018 ist sie wieder mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 15 Stunden als Verkäuferin tätig.

Mit Schreiben vom 07.11.2016 teilte die Klägerin der Beklagten mit, berufsunfähig zu sein. Sie gab an, ab Dezember 2015 erstmals Wirbelsäulenbeschwerden gehabt zu haben, die regelmäßig im Bereich der Halswirbelsäule (HWS) und Lendenwirbelsäule (LWS) aufträten. Laut Bericht des Facharztes für Radiologie Dr. S vom 22.08.2016 hatten sich bei einer Kernspintomographie-Untersuchung der HWS vom 18.08.2016 zwischen den HWK 4 und 7 leichte Bandscheibenschädigungen mit breitbasigen Bandscheibenprotrusionen gefunden, die für mittel- bis höhergradige Stenosen verantwortlich gemacht werden könnten.

Die Beklagte nahm Ermittlungen zu den Belastungen der Klägerin auf.  Der Präventionsdienst kam am 06.03.2017 zum Ergebnis, dass keine gefährdende Tätigkeit im Sinne der BK 2109 vorgelegen habe. Es seien keine Lasten mit einem Gewicht von 40 kg oder mehr auf der Schulter getragen worden. Die Beklagte lehnte es daraufhin durch Bescheid vom 31.03.2017 ab, bei der Klägerin eine BK der Nr. 2109 (bandscheibenbedingte Erkrankungen der HWS durch das Tragen schwerer Lasten auf der Schulter) anzuerkennen.

Der dagegen erhobene Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 20.04.2017 zurückgewiesen. Das Klageverfahren beim SG Koblenz blieb ebenfalls erfolglos. Im sich anschließenden Berufungsverfahren beim LSG Rheinland-Pfalz schlossen die Beteiligten einen Vergleich, wonach die Klägerin ihre Berufung auf Feststellung einer BK nach Nr. 2109 zurücknahm und gleichzeitig beantragte, ihre HWS-Erkrankung als „Wie-BK“ nach § 9 Abs. 2 SGB VII festzustellen und einen rechtsbehelfsfähigen Bescheid zu erteilen.

Durch Bescheid vom 29.05.2018 lehnte es die Beklagte ab, die Erkrankungen der HWS als BK oder als „Wie-BK“ anzuerkennen. Die bei der Klägerin bestehende Erkrankung der HWS ohne das Tragen schwerer Lasten auf der Schulter gehöre nicht zu den in der BK-Liste genannten Erkrankungen. Auch die Voraussetzungen für die Anerkennung der Erkrankung wie eine BK nach § 9 Abs. 2 SGB VII seien nicht erfüllt. Es gebe keine neuen gesicherten medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, dass schwere körperliche Arbeit in Form von Schieben, Ziehen und Heben schwerer Lastgewichte, auch über Kopf, ohne das Tragen auf der Schulter, geeignet sein könnte, die genannte Gesundheitsstörung zu verursachen.

Die Klägerin erhob dagegen erfolglos Widerspruch und Klage vor dem SG Koblenz (Az. S 15 U 231/18). Sie hat Berufung eingelegt.

LSG Rheinland-Pfalz: Es liegt keine Wie-Berufskrankheit (Wie-BK) vor

Eine Wie-BK liegt nach dem Urteil (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 06.04.2021, Az. L 3 U 172/20) demnach nicht schon dann vor, wenn eine beruflich bedingte Belastung mit Wahrscheinlichkeit die Ursache der Krankheit ist. Die Feststellung einer Wie-BK nach dieser Vorschrift ist u.a. vom Vorliegen der allgemeinen Voraussetzungen für die Bezeichnung der geltend gemachten Krankheit als BK nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen abhängig.

Diese allgemeinen Voraussetzungen sind erfüllt, wenn bestimmte Personengruppen infolge einer versicherten Tätigkeit nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen ausgesetzt sind, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft eine Krankheit hervorrufen. Diese Voraussetzungen seien, so das Gericht, jedenfalls erfüllt, wenn eine entsprechende Anerkennungsempfehlung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats „Berufskrankheiten“ vorliegt. Ob ggf. auch zu einem früheren Zeitpunkt die Voraussetzungen vorliegen können, hat das BSG bislang offen gelassen.

Der Referent Berufskrankheiten der DGUV hat in seiner Stellungnahme vom 07.08.2018 auch verneint, dass es neue gesicherte medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, dass eine bestimmte Personengruppe aufgrund der besonderen Einwirkungen durch Heben von Lasten bis 21 kg über Kopf und Schulter sowie durch Ziehen und Schieben von Lasten bis zu 100 kg in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung an Veränderungen der HWS leidet. Es ist auch weder vorgetragen oder sonst ersichtlich, dass dies zwischenzeitlich der Fall wäre.

Die Tatsache, dass es Arbeitsschutzvorschriften wie die Lastenhandhabungsverordnung gibt, (die aber insbesondere dem Schutz der LWS diene, vgl. § 1 Abs. 1 Lastenhandhabungsverordnung) führe zu keiner anderen Beurteilung. Derartige Schutzvorschriften dienten der Vermeidung von drohenden Gesundheitsschäden der Beschäftigten und sollen eine ergonomische und menschengerechte Gestaltung der Arbeit ermöglichen. Dass bestimmte Belastungen danach ausgeschlossen oder vermieden werden sollen, bedeutet nicht zugleich, dass die oben genannten Voraussetzungen für eine BK bzw. Wie-BK, insbesondere die Gruppentypik im oben dargelegten Sinn, zu bejahen wäre.

Ob eine Krankheit innerhalb einer bestimmten Personengruppe im Rahmen der versicherten Tätigkeit häufiger auftritt als bei der übrigen Bevölkerung, erfordere in der Regel den Nachweis einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen und eine langfristige zeitliche Überwachung der Krankheitsbilder. Mit wissenschaftlichen Methoden und Überlegungen muss zu begründen sein, dass bestimmte Einwirkungen die generelle Eignung besitzen, eine bestimmte Krankheit zu verursachen. Selbst wenn im Einzelfall ein Zusammenhang zwischen beruflichen Einwirkungen und Erkrankung zu bejahen sei, würde dies vorliegend nicht ausreichen. Es könne daher hier dahinstehen, ob die von der Klägerin geltend gemachte Erkrankung überhaupt auf die angeschuldigten Einwirkungen zurückgeführt werden kann. Weitere Ermittlungen seien von daher nicht angezeigt.

Anmerkung für die Praxis

Nimmt man die erfolglose Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin beim BSG hinzu (Az. B 2 76/21 B) hat die Betroffene hier fünf Jahre prozessiert, wobei die Auseinandersetzungen zwischen ihr und dem Gericht bis zu hin zu diversen Ablehnungsanträgen gingen.

Der Versuch, die - offenkundig nicht durchsetzbare - Anerkennung einer Berufskrankheit nach BK 2109 durch die Anerkennung einer sog. Wie-BK zu ersetzen ist in der Praxis nicht selten. Interessant ist hier die Argumentation der Klägerin, dass eine sie schützende arbeitsschutzrechtliche Verordnung wie die Lastenhandhabungsverordnung sozusagen die medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse ersetzen würde, die zur Anerkennung einer Wie-Bk ausreichen würden.

Hier differenziert das Gericht eindeutig: Die Arbeitsschutz-Verordnungen sollen Erkrankungen verhindern, dienen aber trotz ihrer nicht unbestrittenen Ausrichtung auf den Gesundheitsschutz nicht dazu, die Entschädigungsmöglichkeiten wegen des späteren Eintretens von Gesundheitsbeschädigungen über den Katalog anerkannter Berufskrankheiten hinaus zu erweitern. Das kann für den Laien und insbesondere für den gesundheitlich Betroffenen oftmals nicht nachvollziehbar sein.

Schlagworte zum Thema:  Berufskrankheit, Arbeitsschutz, Rechtsprechung