Die Gefährdungsbeurteilung nach § 5 ArbSchG folgt einem anderen Erkenntnisziel. Sie ist nicht darauf ausgelegt, zu beschreiben, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Ereignis stattfindet, sondern lediglich zu erkunden, ob Gefährdungen möglich sind. Der Gefährdungsbegriff stellt nach der Begründung zum Arbeitsschutzgesetz keine besonderen Anforderungen an die Eintrittswahrscheinlichkeit. Es ist nur zu fragen, ob eine Gefährdung als "Möglichkeit eines Schadens oder einer gesundheitlichen Beeinträchtigung" auftreten kann.

Die nähere Spezifizierung der Gefährdung besteht dann in der Abschätzung der Schadensschwere. Nach der Begründung des Arbeitsschutzgesetzes gehört zur Gefährdungsbeurteilung, "dass eine Gefährdung als solche erkannt wird und hinsichtlich ihrer Schwere (Art und Umfang des möglichen Schadens) bewertet wird".[1] Dabei ist es bis heute geblieben, denn alle staatlichen Arbeitsschutzvorschriften, Technischen Regeln usw. fordern nicht die Ermittlung von Eintrittswahrscheinlichkeiten und kennen das Wort "Risiko" in dem oben beschriebenen Sinne nicht. Ein einfaches, wenn auch ausreichendes Ergebnis einer Gefährdungsbeurteilung könnte daher schlicht lauten: "Die Leiter kann umstürzen und schwere Verletzungen sind nicht auszuschließen."

Irgendwelche Wahrscheinlichkeitsaussagen müssen in der Gefährdungsbeurteilung nicht gemacht werden, da allein das Vorhandensein einer Gefährdung ausreicht, Maßnahmen zu deren Abhilfe einzuleiten. Es werden auch keine Anforderungen an die genaue Spezifizierung der Schäden gestellt. Es ist nicht erforderlich, vorherzusagen, ob es zu einem Arm- oder Wirbelsäulenbruch kommt, oder nur zu einem verstauchten Fuß. Das wäre Prophetie.

Dabei muss betont werden, dass Gefährdungsbeurteilung und Risikobetrachtung keine gleichwertigen Prozesse sind. Die Gefährdungsbeurteilung ist ein betrieblich zu organisierender Prozess der Erkenntnisgewinnung und Maßnahmenableitung, der für diese Aufgabe bestimmte Instrumente in den Dienst nimmt. Neben Messungen, Begehungen, Auswertung von Literatur usw. könnte dabei auch eine Risikobetrachtung erfolgen.

In ähnlicher Weise wird im Rahmen des Produktsicherheitsgesetzes über die Maschinenrichtlinie die Risikobewertung als Instrument verwendet (es könnte rein theoretisch auch ein anderes sein). Die Frage heißt also nicht: Risikobewertung oder Gefährdungsbeurteilung, sondern Gefährdungsbeurteilung mit oder ohne Risikoabschätzung? Die Antwort ist hier relativ einfach: Nein, keine Risikobetrachtung.

Dies deckt sich auch mit der Intention des Arbeitsschutzgesetzes, dessen 2 wichtigsten Maximen in § 4 Nr. 1 und 2 ArbSchG genannt sind: Gefährdungen sind möglichst zu vermeiden bzw. zu minimieren und sie sind an der Quelle zu beseitigen. Entsprechend dieser Maximen ist es weder erforderlich noch gewünscht, Erwartungswerte für negative Ereignisse oder Gefährdungen festzulegen, sondern allein, diese in ihrer Potenzialität zu erkennen und abzuwehren.

Die in vielen Arbeitshilfen zur Gefährdungsbeurteilung dennoch enthaltenen Risikomatrices folgen daher einem überholten Erkenntnisideal. In den 70er- und 80er-Jahren wurde selbstverständlich auch ohne den normativen Rahmen des Arbeitsschutzgesetzes Gefährdungen betrachtet und bewertet. Dabei bediente man sich häufig Methoden, die dem technischen Umfeld entstammten, u. a. der Risikobewertung.

Bereits Nohl[2] sieht jedoch die Anwendung der Risikoabschätzungen kritisch und es mag vielleicht ein Treppenwitz der Arbeitsschutzgeschichte sein, dass sein Name mit den häufig anzutreffenden schwammigen Risikomatrices verbunden wird, die leider heute noch weit verbreitet sind. In der Tat hat Nohl eine Matrix entworfen, aber das Wort "Risiko" ist damit nicht verbunden, denn er nennt sie "Gefährdungsmatrix".

Dabei äußert sich Nohl in einem modernen Sinne wie folgt: "Sollen Unfälle aber grundsätzlich vermieden werden, dann hat die Höhe der Wahrscheinlichkeit keine Bedeutung. Denn wird eine Gefährdung mit einer geringen Wahrscheinlichkeit verbunden, so kann eben nicht ausgeschlossen werden, dass durch diese Gefährdung ein Unfall eintritt. Selbst eine geringe Wahrscheinlichkeit sagt schließlich aus, daß das Ereignis eintreten kann und somit besteht in jedem Falle ein Handlungsbedarf."[3] Hinzuzusetzen wäre nur, dass auch statistisch seltene Ereignisse sofort eintreten können. Eine niedrige Wahrscheinlichkeit ist keine Garantie für das Ausbleiben eines zeitnahen Unfalls oder einer sich bereits morgen manifestierenden Krankheit.

Von diesen Überlegungen zu den leitenden Maximen des Arbeitsschutzgesetzes ist es nun nur noch ein kleiner Schritt. Es ist egal, wie wahrscheinlich das negative Ereignis ist, es ist zu handeln. Dass wahrscheinlich nichts passiert, ist nach dem Arbeitsschutzgesetz keine Option.

[1] BT Drucksache 13/3540, 22.1.1996.
[2] Nohl: Grundlagen zur Sicherheitsanalyse. Grundlagen und Aufbau einer prospektiven Vorgehensweise im Arbeitsschutz, Verlag Peter Lang, Frankfurt 1989; Nohl: Verfahren zur Sicherheitsanalyse. Eine prospektive M...

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