Der Untersucher bekommt durch seine Gespräche, vor dem Hintergrund der betrieblichen "Fakten" und der persönlichen Eindrücke vor Ort, einen sehr genauen Eindruck von der Arbeitssituation und von dem, individuell möglicherweise sehr unterschiedlichem, Umgang mit den Anforderungen und Belastungen. Bei der Bewertung der Belastungen hinsichtlich ihrer gesundheitlichen Risiken, besitzt der Untersucher einen persönlichen Ermessenspielraum. Sein Urteil ist nicht "objektiv" in dem Sinne, dass jeder andere Untersucher garantiert zu dem gleichen Urteil kommen würde. Umso wichtiger ist es, im Bericht die eigene Einschätzung zu begründen.

 
Praxis-Beispiel

Aus einer Gefährdungsbeurteilung an einem Kassenarbeitsplatz

Die vielen Aktionen überfordern Mitarbeiter/innen und Kunden gleichermaßen. Sie bedeuten erheblichen zusätzlichen Aufwand und führen aufgrund ihrer Komplexität zwangsläufig zu Pannen und Ärgernissen auf beiden Seiten. Beispiele:

  • Ein Kunde bekommt einen Hinweis auf einen Rabatt erst beim Verlassen des Hauses, weil die Prospekte zu spät kamen. Er kehrt verärgert zur Kasse zurück und alles muss neu gebucht werden.
  • Ein "Premium-Kunde" wurde angeschrieben, dass er 20 % Rabatt bekommt, und stellt dann fest, dass bei den für ihn interessanten Artikeln gerade jeder Kunde 20 % Nachlass bekommt.
  • Vor dem Haus werden Klebezettel für Rabatte verteilt. Ein Kunde beschwert sich, warum ein anderer Kunde 3 Zettel hat und er nur einen.

Es gibt oft viele Aktionen gleichzeitig, die sich z. T. gegenseitig ausschließen. Im Weihnachtsgeschäft liefen schon mal über ein Dutzend Aktionen zur selben Zeit. Es kommt vor, dass vor dem Haus Flyer verteilt werden und die Kassierer/innen wissen davon nichts. Auch das Führungspersonal hat Probleme, den Überblick zu behalten. So gibt es im Intranet unterschiedliche Herausgeber für Rundschreiben und nicht eine zentrale Stelle mit einer Übersicht über laufende und geplante Aktionen.

Empfehlungen:

  1. Die Aktionen sollten vereinfacht werden.
  2. Die Aktionen sollten rechtzeitiger angekündigt werden. Das Führungspersonal sollte aktiv informiert werden oder es sollte eine Adresse im Intranet geben, wo immer alles übersichtlich zu finden ist.
  3. Bleibt es so komplex, sollte die Kasse über Strichcodes alle Aktionen erkennen.
  4. Ausgewählte Verkäufer/innen aus der Praxis sollten an der Planung von Aktionen beteiligt werden.

Das Beispiel zeigt, dass ein Bericht überzeugender und aussagekräftiger wird durch Details. Die betrieblichen Entscheider verstehen so, wie der Untersucher zu seiner Einschätzung von Fehlbeanspruchungen und entsprechendem Handlungsbedarf gelangt.

Der Ermessensspielraum in der Bewertung lässt sich vergleichen mit der eines Arztes. Üblicherweise schildert ein Patient seinem Arzt zunächst aus seiner persönlichen Sicht seine Beschwerden. Dies entspricht den persönlichen Schilderungen im Interview. In vielen Fällen nimmt ein Arzt anschließend objektive Messungen vor, "objektiv" in dem Sinne, dass jeder andere Arzt zu den gleichen Messergebnissen gelangen würde. Mögliche Messungen sind die Körpertemperatur, der Blutdruck, ein EKG usw.

In der hier beschriebenen Methodik einer Gefährdungsbeurteilung entspricht dieser Schritt der Auswertung betrieblicher Daten.[1] Legt sich der Arzt schließlich fest auf eine Diagnose (Schnupfen, Grippe, Lungenentzündung usw.) und auf einen Therapievorschlag (Antibiotika, Halstabletten, Inhalation, Bettruhe usw.), so sind diese Festlegungen nicht mehr objektiv. Mehrere Ärzte würden möglicherweise zu anderen Einschätzungen und Empfehlungen gelangen. Dennoch gibt es zu dieser Vorgehensweise keine Alternative. Denn die Messungen ermöglichen in den meisten Fällen keine eindeutige Diagnose und auf die Aussagen des Patienten alleine sollte sich auch kein Arzt verlassen.

Auch der Untersucher, der die hier beschriebene Interviewmethodik nutzt, wird das subjektive Erleben der Beschäftigten erfragen, alle verfügbaren objektiven Daten und Fakten heranziehen und anschließend zu einem zwar nicht objektiven, aber immerhin neutralen und – bei Wahl einer geeigneten Person – fachkundigen Urteil gelangen.

Im Bericht sollten verschiedene Teile für den Leser deutlich unterschieden werden:

  1. die Beschreibung der Arbeitssituation, der Anforderungen und Belastungen (neutral aufgefasst gemäß EN ISO 10075),
  2. die Bewertung der Beanspruchungen hinsichtlich möglicher Gesundheitsrisiken,
  3. die Darstellung des Handlungsbedarfes mit Vorschlägen und Empfehlungen.
[1]

S. Abschn. 2.4.

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