Hängt bei mathematischen Verfahren die Güte des Ergebnisses in erster Linie von der richtigen Auswahl der Parameter und der Güte der Daten ab, so sind bei semiquantitativen Schätzungen die Güte der Beurteiler und die Eindeutigkeit der Kriterien die kritischen Faktoren.

Bei quantitativen Erhebungen stellt sich immer die Frage nach der gewünschten Aussage und den dafür notwendigen Bezugsgrößen. Die Aussage, dass 90 % aller Lungenkrebserkrankungen auf das Rauchen zurückzuführen sind, steht nicht im Widerspruch zu der Feststellung, dass nur 20 % aller Raucher einen Lungenkrebs entwickeln. Es sind unterschiedliche Aussageabsichten mit unterschiedlichen Datenbasen.

Dies wird dann problematisch, wenn nicht genau festgelegt werden kann, was die richtige Bezugsgröße ist. So ist das Flugzeug mit 0,035 Toten pro 100 Mio. Personenkilometer 20 mal sicherer als das Auto und zusammen mit der Bahn das sicherste Verkehrsmittel. Bezieht man die tödlichen Ereignisse aber nicht auf die Strecke, sondern auf die Zeit im Verkehrsmittel, so sieht die Sache plötzlich anders aus: Pro 100 Mio. Reisestunden liegt das Flugzeug mit 16 Toten nur noch knapp hinter dem Auto mit 25 (also Faktor 1,6 und nicht mehr 20) und ist das zweitunsicherste Verkehrsmittel. Die Bahn liegt jetzt um den Faktor 8 unter dem Flugzeug.[1]

Risikoabschätzungen müssen also immer gut durchdacht bzgl. der Grunddaten und der gewünschten Aussage sein. Das oben gegebene Beispiel für die Leitern ist letztendlich eine unzulässige Aussage, denn es berücksichtigt nicht die Höhe der jeweiligen Leiterbesteigungen. Sinnvoller wäre eine Analyse der tödlichen Unfälle bei Leiterbesteigungen über 2 m Höhe. Aber diese Zahlen haben wir nicht – weder allgemein, noch im Betrieb.

Außerdem wäre bei Anwendung in einer Gefährdungsbeurteilung auch hier zu fragen, welche Bezugsgröße die Realität besser beschreibt, also z. B. die Anzahl der Leiterbesteigungen oder eher die Zeit, die auf den Leitern verbracht wird. Sicherheitsprobleme mit Leitern gibt es beim Aufstellen, aber auch bei den eigentlichen Arbeiten auf den Leitern. So könnte z. B. das Risiko in einer Arbeitssituation, die häufige, aber nur kurzfristige Leiterverwendungen erfordert, vielleicht am besten durch die Zahl der Leiterbesteigungen erfasst werden, während es in anderen Situationen, die zwar eher selten sind, in denen aber eine lange Arbeitszeit auf der Leiter verbracht werden muss, eher der Zeitfaktor ist.

In der Praxis würde dies bedeuten, dass alle Leiterverwendungen zunächst darauf zu untersuchen sind, welchem Risikomodell sie entsprechen, um dann jeweils getrennte Instrumente einzusetzen. Dies ist völlig unrealistisch und eher ein "Schreibtischkonzept".

Quantitative Risikobetrachtungen sind daher in Unternehmen aus konzeptionellen Gründen als auch aufgrund des Mangels ausreichender Basisdaten praktisch unmöglich. Deshalb werden seit langer Zeit Schätzverfahren, z. B. nach Modellen der Abb. 1 vorgenommen. Der Nachteil hier ist, dass – wie bereits erwähnt – einerseits schwammige Begriffe verwendet werden, die jeder anders interpretieren kann, andererseits diese Einschätzungen psychologisch bedingten Verzerrungen unterliegen.[2] Insbesondere hat sich herausgestellt, dass unbekannte oder scheinbar nicht kontrollierbare Gefährdungen überschätzt werden, wohlbekannte und vermeintlich beherrschbare Situationen dagegen unterschätzt werden. Ähnlich ist es, wenn ein Ereignis plötzlich viele Opfer erzeugt, andere aber häufig vorkommen, jeweils aber nur eine kleine Opferzahl mit sich bringen. Flugzeuge werden deswegen als gefährlich eingestuft, weil ein Absturz meist zu einer sehr hohen Zahl an Toten führt, das Auto dagegen wird meist als deutlich ungefährlicher eingestuft, da es zwar viele Unfälle, allerdings mit jeweils geringer Opferzahl gibt. Außerdem halten wir das Auto für beherrschbar, die Gefahren für kontrollierbar. Die obigen Zahlen erzählen aber eine andere Geschichte.

Dazu kommt ein Phänomen des "Abschleifens", d. h., mit zunehmender Exposition gegenüber einer Gefährdung wird deren subjektive Bedrohung vermindert. Der erste Gebrauch einer Handkreissäge wird sicher mit entsprechender Vorsicht und Sorgfalt verbunden sein, der 2.000. Gebrauch dagegen nicht mehr. Alles Routine. Das Ergebnis sehen wir in einem 2-gipfeligen Unfallverlauf, wobei die jüngsten als auch "mittelalte" Arbeitnehmer die höchsten Unfallzahlen aufweisen. Die jüngeren aufgrund mangelnder Erfahrung, die älteren aufgrund nachlassender Risikowahrnehmung.[3]

Diese Effekte dürften sich zusammen mit den undefinierten Begriffen, die mal so, mal so ausgelegt werden können, sehr deutlich negativ auf die korrekte Einschätzung betrieblicher Gefährdungen auswirken. Hoyos fasst dies sehr treffsicher zusammen: "Einer der am meisten misslingenden geistigen Leistungen ist das Abschätzen von Risikowahrscheinlichkeiten im Arbeitsschutzzusammenhang".[4]

[1] Zahlen nach Bernau: Die Gefahren des Fliegens, 2014,http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/absturz-in-den-alpen/wie-gefae...

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