Nicht wenige Gesundheits- und Rechtsexperten sehen beim Nudging aber auch Gefahren, insbesondere hinsichtlich dessen Manipulations- und Bevormundungspotenzials. Es gehe aus ethischer Sicht v. a. um die Frage, ob die Autonomie, also die Selbstbestimmung des Einzelnen gewahrt wird und ob er eine echte Wahlfreiheit hat. Und die Antwort sei laut den Kritikern klar: Die Wirkmechanismen des Nudgings, könnten zwar nicht als "grundrechtverletzend", aber tendenziell durchaus als "grundrechtverkürzend" bewertet werden.

Das im Grundgesetz garantierte Persönlichkeitsrecht müsse die Interessen des Menschen auf eine selbstbestimmte und damit autonome Willensbildung und Entscheidungsfähigkeit schützen. Staatliche und betriebliche Maßnahmen, welche versuchen, einen Einfluss auf diese Willensbildung zu nehmen, stünden damit im Widerspruch zur grundrechtlich garantierten inneren Geistesfreiheit und dem Recht auf gesundheitliche Selbstbestimmung. Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention hätten zumindest das Potenzial zu einem Grundrechtseingriff, der Staat müsse die potenziellen Ergebnisse der Maßnahmen also stets mit dem dadurch entstehenden Eingriff in die Grundrechte abwägen.

Selbst Anhänger des Nudging geben zu, dass man sich beim Nudging teilweise zumindest auf einem schmalen Grat zwischen "Anstupsen" und Manipulation befindet. Um den Verdacht auf Manipulation oder gar Bevormundung von vornherein aus dem Weg zu räumen, so argumentieren sie, müssten im Vorfeld gewisse "Spielregeln" ausgemacht und implementiert werden. Die 2 wichtigsten Regeln:

  1. Nudging-Angebote müssten transparent präsentiert werden. Nudges sollten daher nur wahre Informationen beinhalten und eindeutig interpretierbar sein. Auch das Verhalten, zu dem die Nudges anregen sollen, muss erkennbar sein, damit die Adressaten letztlich selbst entscheiden und so die Souveränität über ihr Verhalten weiter wahren können. Den Adressaten von Nudges müsse klar gemacht werden, dass sie alternative Wahlmöglichkeiten haben, wie diese gegenüber den bisherigen Angeboten konkret aussehen und dass sie nach wie vor die Entscheidung selbst treffen können.
  2. Es müsse sichergestellt sein, dass der Einzelne durch seine Wahlentscheidung für oder gegen das Nudge keine Nachteile erfährt. Mit anderen Worten: Die Wahlentscheidung des Einzelnen müsste von seinem Umfeld vollständig akzeptiert werden.

Die Kritiker wenden dagegen wiederum ein, dass der Aufbau eines vermeintlich transparenten und nicht diskriminierenden Entscheidungsbegriffs von einem unvollständigen Freiheitsverständnis zeuge. Den Freiheitseingriff mit dem Argument zu verneinen, dass die Gestaltung der Entscheidungsarchitektur des Nudgings die Wahlfreiheit des Einzelnen unberührt lasse, sei rechtlich gesehen zu kurz gedacht. Zur Freiheit gehörten nämlich sowohl die äußere Freiheit zur Freiheitsausübung als auch die innere Freiheit zur selbstbestimmten Entscheidung über das Ob und Wie der Freiheitsausübung. Beim Nudging mag vielleicht formell eine Wahlmöglichkeit bei der Freiheitsausübung (also die äußere Freiheit) bestehen, nicht aber wirkliche Freiheit bei der Entscheidungsfindung selbst (die innere Freiheit).

Ein Beispiel hierfür sind die o. g. Gamification-Nudges: Was vielen Beschäftigten Spaß macht, kann für andere ein reiner Zwang sein. Der soziale Druck der motivierten Beschäftigten auf die weniger motivierten Kollegen kann dann so groß werden, dass die Teilnahme für letztere im Endeffekt nicht mehr wirklich freiwillig im Sinne ihrer "inneren Freiheit" ist – von der potenziellen sozialen Stigmatisierung durch die Kollegen im Falle der Verweigerung der Teilnahme an einem derartigen Wettbewerb und der damit verbundenen Erhöhung der psychischen Belastung für die betroffenen Mitarbeiter einmal ganz abgesehen.

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