Frithjof Bergmann übt Kritik an aktueller New Work-Debatte

Der Philosoph und Anthropologe Frithjof Bergmann entwickelte vor rund vier Jahrzehnten eine Vision für Neue Arbeit – und prägte damit den Begriff „New Work“ als Gegenmodell zum kapitalistisch geprägten Arbeitsmodell. An der heutigen New-Work-Debatte übt er aber harte Kritik.

Personalmagazin: Herr Bergmann, der Begriff „New Work“ hat in den vergangenen Jahren eine Erfolgsgeschichte erlebt. Viele Unternehmen behaupten, dass sie ihre Organisation danach ausrichten. Wie beurteilen Sie das, was Sie dort beobachten?

Frithjof Bergmann: Ich sehe das nicht nur mit Zufriedenheit, Freude und Begeisterung. Die Ursprungsidee ist nicht vollkommen entstellt worden. Aber was ich damit zu erreichen versucht habe, ist nicht deutlich genug.

Die Ursprungsidee zu New Work

Personalmagazin: Was versuchten Sie damals mit Ihrer Ursprungsidee konkret zu erreichen?

Bergmann: Der ursprüngliche Gedanke war ein sehr krasser und doch einfacher: Ich habe in den 1970er-Jahren bei General Motors in Flint, Michigan, gearbeitet. Dort hatte man ein ähnliches Problem wie heute: Die Digitalisierung schritt dramatisch vo­ran. Man setzte immer mehr Computer ein und das bedeutete, dass es Massenentlassungen geben würde. Doch die Digitalisierung schafft ja nicht die ganze Arbeit ab, sondern verkürzt sie nur.

Deshalb habe ich vorgeschlagen, die Hälfte der Arbeitszeit sollte man am Fließband erledigen und in der andere Hälfte der Arbeitszeit herausfinden, was man wirklich, wirklich will. Als Verhandlungsführer habe ich dem Management gegenüber betont, dass es dabei nicht nur darum geht, Entlassungen zu verhindern. In der freien Zeit, die die Arbeiter durch die Digitalisierung gewinnen, sollten sie die Möglichkeit haben, mit sehr viel Unterstützung ihre Berufung zu finden.

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Mir ging es also vor allem um diese Unterstützung. Das wird in der Presse dauernd falsch dargestellt oder übergangen. Wir brauchen neue Schulen, Institutionen, Herangehensweisen und Möglichkeiten, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Dafür haben wir die Zentren für Neue Arbeit aufgebaut – das erste gab es in Mumbai, aktuell entsteht eines in Oberösterreich.

Personalmagazin: Welche Art der Unterstützung bieten Sie in einem „Zentrum für Neue Arbeit“?

Bergmann: Im Grunde ist das „Trial and Error“. Für den Prozess des Herauskriegens muss man verschiedene Arten von Arbeit versuchen. So kommt man schrittweise näher und bemerkt irgendwann, jetzt tue ich etwas, das mir entspricht. Man braucht viel Raum zum Experimentieren, viel Zeit und Energie. Wenn man das vereinfacht und verflacht, kann nichts Anständiges dabei herauskommen. Gerade jetzt, wenn alle von New Work reden, wird das gern unter den Teppich gekehrt.

Herausfinden, was man wirklich will - in vielen kleinen Schritten

Personalmagazin: Könnten Sie mal ein Beispiel geben, wie Sie an dieses Herauskriegen herangehen?

Bergmann: Das Ganze passiert in vielen kleinen Schritten. Die Leute mit großen Kulleraugen anzuschauen und zu fragen, was man wirklich, wirklich will, bewirkt gar nichts. Nur eine peinliche Stille. Wir sagen oft: „Nimm die letzte Woche und versuche dich hartnäckig zu fragen, ob da irgendetwas in diesen Tagen war, das dir eine unerwartete Freude bereitet hat.“ Manchmal gelingt das.

Einmal kam eine Frau zu uns ins Zentrum für Neue Arbeit, die blass und schüchtern war. Sie hat sinngemäß gesagt: „Ich bin eine Maus. Ich will etwas ganz Kleines und Bescheidenes machen.“ Zu meiner Überraschung meinte sie eines Tages, dass sie eine große Freude empfand, als sie einem Taxifahrer laut schreiend die Meinung sagte. Das war ein großer Schritt, weil sie erkannt hatte, sie ist keine Maus, sondern sollte vielleicht eher Managerin werden. Sie hat das von sich selbst gar nicht erwartet. Das verdeutlicht dieses Schürfen, Graben, neu Ansetzen. New Work heißt, dass man Arbeit ganz anders erleben und empfinden kann als bisher und dass man sich auf diese grundsätzliche Andersartigkeit vorbereiten muss. Das ist ein radikal neues Denken.

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Personalmagazin: Ärgern Sie sich nicht darüber, wenn Ihre Idee nun durch den Kapitalismus verwässert wird?

Bergmann: Ich ärgere mich nicht nur ein bisschen, sondern ich ärgere mich sehr, sehr tüchtig. Dafür habe ich schon fast ein geflügeltes Wort geprägt: Lohnarbeit im Minirock. Für viele ist New Work etwas, was die Arbeit ein bisschen reizvoller macht. Und das ist absolut nicht genug. Aber andererseits gibt es heute viele Leute, die sich mit der Neuen Arbeit befassen und ich bin auch ein nicht unbescheidener Mensch. Es ist mir sympathisch, dass die Neue Arbeit jetzt bekannt geworden ist – auch wenn sie sehr weit weg ist von dem, was ich mir dabei gedacht habe.

Selbstverantwortung allein ist noch nicht New Work

Personalmagazin: Manche Unternehmen fördern Selbstverantwortung anstelle von Fremdbestimmung in klassischen Hierarchien. Menschen sollen zum Beispiel selbst für Leistungs- und Lernziele verantwortlich sein. Ist das New Work?
Bergmann: Wenn Selbstverantwortung allein schon New Work sein soll, dann ist es das nicht. Es braucht alles Mögliche und so wäre es zu verwässert. Das ist nicht radikal genug.

Personalmagazin: Viele Unternehmen betonen eine hohe Flexibilität von Arbeitszeit und Arbeitsort, die Abkehr von Anreizsystemen über Boni, Transparenz als Grundlage der Kommunikation oder die Verbreitung der Mosaikkarriere. Diese einzelnen Aspekte herauszupicken, genügt Ihnen also prinzipiell nicht?

Bergmann: Ja, das ist der springende Punkt. New Work kann ein Betrieb nicht leicht über einzelne Dinge erreichen. Neue Arbeit ist nicht nur mosaikhaft. Man kann nicht aus kleinen Stücken ein Arbeitsleben zusammenkleistern. Da sehe ich immer noch die Gefahr, dass Arbeit als eine milde Krankheit empfunden wird.

Profitstreben und die Logik von New Work schließen sich nicht aus

Personalmagazin: Unternehmen haben ja per se den Sinn, Profit zu machen. Inwiefern ist aus Ihrer Sicht innerhalb dieser Logik Neue Arbeit überhaupt möglich und inwiefern gibt es Platz für die persönliche Entwicklung?

Bergmann: Das eine schließt das andere nicht aus! Ich habe sehr viele unterschiedliche Unternehmen erlebt, in denen sich die Gedanken vom wirklich Wollen absolut mit den Unternehmenszielen überschneiden. Wenn Mitarbeiter etwas machen, was sie wirklich im Ernst wollen, anstatt die Dinge mit einer gewissen Lässigkeit und Müdigkeit zu tun, liegt es doch auf der Hand, dass sie ein höheres Niveau mit einer größeren Intensität erreichen. Das ist besser für den Betrieb und für die Menschen – und somit ein Fortschritt für alle.

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Personalmagazin: Die Aneignung von New Work lässt sich also aus Ihrer Sicht nicht so schwarz-weiß malen...

Bergmann: Es gibt natürlich Unternehmen, die die Idee ausnützen und als Marketing-Trick verstehen – aber immer weniger. Das setzt sich nicht durch, im Gegenteil. Es ist nicht verwunderlich, sondern eigentlich beinahe zu banal, dass New Work besser für den Betrieb ist als Arbeit unter Zwang, bei der irgendein Vorgesetzter den Mitarbeitern Dinge vorschreibt.

Viele kluge Unternehmer wehren sich zunächst gegen diesen einfachen Gedanken. Aber es ist nichts Merkwürdiges dabei. Ein Unternehmen „profitiert“ ebenso davon wie die Mitarbeiter – und ich benutze den Ausdruck jetzt bewusst etwas zwiespältig. Denn es spielt eine große Rolle, dass wir gemeinsam mit dem Betrieb an etwas Besserem arbeiten.

New Work ist auch Kritik am Kapitalismus

Personalmagazin: Viele Unternehmen nähern sich New Work nicht, weil sie dabei zuerst an den Menschen denken, sondern weil sie merken, dass das die Organisation produktiver, innovativer und agiler macht. Stört Sie das als Kapitalismuskritiker nicht, dass die Unternehmen einen anderen Hintergedanken haben und es ihnen nicht vorrangig um die Entfaltung des Individuums geht?

Bergmann: Es freut mich sehr, wenn Menschen erkennen, dass in dem Ganzen eine Kritik des Kapitalismus begraben liegt. Die meisten Unternehmen versuchen – wie Sie das auch beschreiben – New Work in einer Art und Weise einzubauen, wie sie die Dinge schon immer gemacht haben. Im Grunde sind viele nicht bereit, einschneidende Änderungen hineinzubringen.

Personalmagazin: Was ist Ihre Vorstellung, wo es mit New Work in Zukunft hingehen soll?

Bergmann: Heute berufen sich viele Leute auf das, was ich am Anfang laut in die Welt trompetet habe. Aber das war nicht immer so. Eine Zeitlang hatte ich das Gefühl, die Neue Arbeit habe sich leer gelaufen und daraus wird nichts Großes und Aufregendes mehr. Nun ist New Work wieder sehr gefragt, vermutlich wegen der rapiden Digitalisierung, aber auch weil die Menschen eine Veränderung spüren, die in der Luft liegt. Damit hat sich mein Lebensplan sehr verändert.

„Ich würde gerne erleben, wie New Work globalisiert wird.“

Frithjof Bergmann

Wenn meine Gesundheit mitspielt, werde ich gerne daran teilhaben, wie die Neue Arbeit globalisiert wird. Demnächst soll mein Buch „Neue Arbeit, neue Kultur“ erstmals auf Englisch erscheinen. In Mexiko wurde gerade gewählt. Und der neue Präsident Lopez Obrador ist möglicherweise empfänglich für die Ideen der Neuen Arbeit. Vielleicht kann ein Gespräch zwischen uns stattfinden. Ich möchte noch einmal ausprobieren, ob ich die Neue Arbeit im Ernst verwirklichen kann – und dafür in verschiedenen Ländern darüber sprechen, was New Work wirklich ist.

Das Interview führte Stefanie Hornung, freie Journalistin in Tübingen.

​​​​​​​Hinweis: Der Beitrag ist ein Auszug aus dem Interview mit dem Philosophen und Anthropologen Frithjof Bergmann aus Personalmagazin 09/2018