Keine Heilung der Unzuständigkeit durch Einspruchsentscheidung

Ein Verwaltungsakt, der von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen wurde und daher rechtswidrig ist, wird nicht dadurch rechtmäßig, dass die sachlich und örtlich zuständige Behörde über den Einspruch gegen den rechtswidrigen Ausgangsbescheid entscheidet.

Hintergrund: Streitig war der Erlass einer Kindergeldrückforderung

Die A erhielt aufgrund eines Abzweigungsbescheids aus 2014 laufend Kindergeld für sich selbst. Im Oktober 2014 beendete sie ihre Ausbildung vorzeitig, wovon die zuständige Familienkasse NRW Nord erst in 2016 Kenntnis erlangte. Die Familienkasse NRW Nord hob deshalb gegenüber dem Vater der A die Kindergeldfestsetzung auf und forderte mit Bescheid aus 2016 von der A als Abzweigungsempfängerin das für den Zeitraum November 2014 bis Juli 2016 gezahlte Kindergeld zurück. Beide Bescheide wurden bestandskräftig. Die Durchführung des Rückforderungsverfahrens übernahm die Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse.

In 2017 beantragte die A den Erlass dieser Rückforderung. In 2018 erließ der Inkasso-Service Familienkasse (Ausgangsbehörde) eine Teilforderung und lehnte den Erlassantrag im Übrigen unter Hinweis auf die Verletzung der Mitwirkungspflicht der A ab. Den hiergegen eingelegten Einspruch wies die Familienkasse NRW Nord (Einspruchsbehörde) durch Einspruchsentscheidung als unbegründet zurück.

Das FG gab er Klage insoweit statt, als die A die Aufhebung des Ablehnungsbescheids und der Einspruchsentscheidung begehrte. Die Ablehnung des Erlasses sei durch eine sachlich unzuständige Behörde (Inkasso Service Familienkasse) ausgesprochen worden. Dieser Mangel sei durch die nachfolgende Einspruchsentscheidung der sachlich zuständigen Behörde (Familienkasse NRW Nord) nicht geheilt worden.

Hiergegen legte die Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse Revision ein.

Entscheidung: Keine Heilung des Zuständigkeitsmangels durch die Einspruchsentscheidung

Der BFH wies die Revision als unbegründet zurück. Der Mangel der sachlichen Zuständigkeit der entscheidenden Behörde wird durch die nachfolgende Einspruchsentscheidung der zuständigen Behörde nicht geheilt.

Ausgangsbehörde als richtiger Beklagter

Die Klage richtet sich gegen die Agentur für Arbeit, Inkasso-Service Familienkasse. Nach § 63 Abs. 1 FGO ist die Klage gegen die Behörde zu richten, die den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassen hat (§ 63 Abs. 1 Nr. 1 FGO) oder die den beantragten Verwaltungsakt oder die andere Leistung unterlassen oder abgelehnt hat (§ 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO). Die Bezugnahme auf den "ursprünglichen" Verwaltungsakt bedeutet, dass nur die Ausgangsbehörde und nicht etwa die Rechtsmittelbehörde beteiligt sein soll. Daher ist im Streitfall die Agentur für Arbeit, Inkasso-Service Familienkasse und nicht die Familienkasse NRW Nord als Rechtsmittelbehörde (Einspruchsbehörde) beteiligt (BFH v. 25.2.2021, III R 36/19, BStBl II 2021, S. 712, Rz. 13 ff.).

Kein Fall des § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO

Diese Vorschrift betrifft den Wechsel der örtlichen Zuständigkeit (z.B. durch Wohnsitzwechsel) vor Erlass der Einspruchsentscheidung. Diese Konstellation liegt im Streitfall nicht vor. Bei der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse trat vor Erlass des Ausgangsbescheids kein Wechsel in der örtlichen Zuständigkeit ein. Vielmehr hat diese als von Beginn an sachlich unzuständige Behörde entschieden (z.B. BFH v. 7.7.2021, III R 21/18, BFH/NV 2021, S. 1457, Rz. 19). Die Agentur für Arbeit, Inkasso-Service Familienkasse war nicht die ursprünglich zuständige Behörde, es trat keine Veränderung der örtlichen Zuständigkeit ein und es kam zu keiner Zuständigkeitsveränderung zwischen dem Erlass des Ausgangsbescheids und dem Erlass der Einspruchsentscheidung.

Inkasso-Service als sachlich unzuständige Behörde

Der Ablehnungsbescheid der Agentur für Arbeit, Inkasso-Service Familienkasse wurde vom FG zutreffend als rechtswidrig aufgehoben, weil er von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen wurde. Der BFH hat bereits mehrfach entscheiden, dass die Konzentration der Aufgaben des Erhebungsverfahrens (insbesondere der Erlass und die Stundung von Kindergeldrückforderungen) bei der Agentur für Arbeit, Inkasso-Service Familienkasse und der Familienkasse NRW Nord rechtswidrig ist (BFH v. 25.2.2021, III R 36/19. BStBl II 2021, S. 712).

Keine Heilung des Mangels der sachlichen Zuständigkeit

Der Mangel der sachlichen Zuständigkeit der Agentur für Arbeit, Inkasso-Service Familienkasse wurde nicht durch die nachfolgende Einspruchsentscheidung der (zuständigen) Familienkasse NRW Nord geheilt. Zum einen liegt kein Fall der abschließend aufgezählten Heilungsgründe nach § 126 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 AO vor. Zum anderen wurde der Mangel auch nicht durch die Gesamtüberprüfung des Falls im Einspruchsverfahren nach § 367 Abs. 2 AO geheilt. Nach § 44 Abs. 2 FGO ist Gegenstand der Anfechtungsklage nach einem Vorverfahren der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf gefunden hat. Damit geht der Gesetzgeber nicht davon aus, dass die Einspruchsentscheidung an die Stelle des Ausgangsbescheids tritt. Vielmehr bleibt der Ausgangsbescheid Verfahrensgegenstand. Stellt die Einspruchsbehörde im Rahmen der umfassenden Prüfung fest, dass die Ausgangsbehörde sachlich unzuständig war, hat sie deren Ausgangsbescheid aufzuheben und durch einen neuen Ausgangsbescheid erstmals selbst zu entscheiden. Wird der Erlassantrag wiederum abgelehnt, steht dem Antragsteller dagegen erneut der Einspruch zu. Dem Betroffenen (bzw. hier der A als Abzweigungsempfängerin) bleibt damit der volle außergerichtliche Rechtsschutz mit einer Prüfung durch zwei Stellen der Verwaltung erhalten. 

Revision unbegründet

Hiervon ausgehend hat das FG zutreffend den Ablehnungsbescheid und die Einspruchsentscheidung als rechtswidrig aufgehoben. Für das weitere Verfahren weist der BFH ergänzend darauf hin, dass die örtliche Zuständigkeit der Familienkasse für die Entscheidung über den Erlass einer gegenüber einem Abzweigungsempfänger geltend gemachten Rückforderung an den Wohnort des Kindergeldberechtigten anknüpft, dessen Kindergeld abgezweigt wird. Die örtliche Gesamtzuständigkeit der Wohnsitzfamilienkasse umfasst Erhebungsfragen auch dann, wenn Dritte (z.B. der Abzweigungsempfänger) betroffen sind. Auf den Wohnort des Abzweigungsempfängers kommt es nicht an.

Hinweis: Gegenmeinung in FG-Rechtsprechung und Schrifttum

Von Finanzgerichten und im Schrifttum wird zum Teil vertreten, die auf der sachlichen Unzuständigkeit beruhende Rechtswidrigkeit des Ausgangsbescheids werde durch die Einspruchsentscheidung des sachlich zuständigen FA geheilt (z.B. FG Berlin-Brandenburg v. 17.6.2020, 7 K 14045/18, EFG 2020, S. 1284, Wackerbeck in HHSp, § 16 Rz. 55). Der BFH tritt dieser Auffassung ausdrücklich entgegen.  

BFH Urteil vom 19.01.2023 - III R 2/22 (veröffentlicht am 06.04.2023)

Alle am 06.04.2023 veröffentlichten BFH-Entscheidungen


Schlagworte zum Thema:  Einspruch, Finanzamt, Kindergeld