Entscheidungsstichwort (Thema)
Verhalten beim Passieren eines im Einsatz befindlichen Müllfahrzeugs
Leitsatz (amtlich)
1. Beim Vorbeifahren an Müllfahrzeugen im Einsatz muss nicht stets oder in der Regel Schrittgeschwindigkeit oder ein Sicherheitsabstand von 2 m eingehalten werden (a.A. z.B. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 26. Juli 2018 - 1 U 117/17, juris); maßgeblich sind vielmehr die jeweiligen Umstände des Einzelfalls, u.a. die örtlichen Gegebenheiten und etwaige Wahrnehmungen des Fahrzeugführers. Die Reduzierung der Geschwindigkeit auf 13 km/h kann ausreichend sein.
2. Die Privilegierung des § 35 Abs. 6 StVO begründet keine Befreiung vom allgemeinen Rücksichtnahmegebot des § 1 StVO. Ein Müllwerker, der auf der Fahrbahn einen großen, schweren Müllrollcontainer hinter dem Müllfahrzeug hervorschiebt, ohne auf den Verkehr zu achten, verstößt gegen § 1 Abs. 2 StVO.
Normenkette
StVO §§ 1, 3, 35 Abs. 6
Verfahrensgang
LG Hannover (Aktenzeichen 12 O 103/21) |
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 1. August 2022 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 12. Zivilkammer des Landgerichts Hannover ≪12 O 103/21≫ teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Der Beklagte zu 2) wird verurteilt, an die Klägerin 1.160,45 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 20. April 2021 zu zahlen.
Der Beklagte zu 2) wird verurteilt, an die ... Versicherung zu deren Schadensnummer ... außergerichtliche Kosten in Höhe von 185,10 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 20. April 2021 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die weitergehende Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.
Die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens tragen die Parteien wie folgt:
- die Gerichtskosten und die außergerichtlichen Kosten der Klägerin tragen diese selbst zu 68 % und der Beklagte zu 2) zu 32 %,
- die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 1) trägt die Klägerin,
- die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 2) tragen diese selbst zu 63 % und die Klägerin zu 37 %.
Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Klägerin zu 36 % und der Beklagte zu 2) zu 64 %.
Die Kosten der Verweisung hat die Klägerin zu tragen.
Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Den Parteien wird nachgelassen, die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die vollstreckende Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 603,74 Euro festgesetzt.
Gründe
I. Die Klägerin macht Schadensersatzansprüche nach einem Verkehrsunfall am 10. März 2021 auf der T.straße in H. geltend, bei dem eines ihrer Pflegedienstfahrzeuge beschädigt wurde.
Die Mitarbeiterin M. der Klägerin fuhr an einem Müllfahrzeug des Beklagten zu 2) vorbei, das mit laufendem Motor, laufender Trommel/Schüttung und eingeschalteten gelben Rundumleuchten sowie Warnblinkanlage in Höhe der Hausnummer ... stand. Dabei kam es zur Kollision mit einem Müllcontainer, den der Beklagte zu 1) hinter dem Müllfahrzeug quer über die Straße schob.
Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin in der Hauptsache die Erstattung der Fahrzeugreparaturkosten, dazu die Kostenpauschale, vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten und Zinsen.
Die Parteien haben erstinstanzlich über Einzelheiten des Unfallhergangs, insbesondere die von der Zeugin M. gefahrene Geschwindigkeit, gestritten.
Das Landgericht hat mit am 1. August 2022 verkündeten Urteil, auf das gemäß § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen, des Vorbringens der Parteien im Einzelnen und der erstinstanzlichen Anträge Bezug genommen wird, nach Beweiserhebung durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Unfallhergang die Klage gegen den Beklagten zu 1) abgewiesen und der Klage gegen den Beklagten zu 2) nach einer Haftungsquote von 50 : 50 teilweise stattgegeben. Zur Begründung führt das Landgericht insbesondere Folgendes aus:
Gegen den Beklagten zu 1) sei die Klage unbegründet, weil dieser Beamter i.S.v. § 839 BGB sei, für den daher nach Art. 34 GG die Beklagte zu 2. hafte.
Gegen den Beklagten zu 2) stehe der Klägerin ein Anspruch aus § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG zu. Nach den Feststellungen des Sachverständigen hätte der Beklagte zu 1) das Klägerfahrzeug erkennen können und daher auf das Überqueren der Fahrbahn verzichten müssen. Er habe die ihm obliegende Amtspflicht, andere Verkehrsteilnehmer nicht zu gefährden, fahrlässig verletzt. Allerdings müsse sich die Klägerin gemäß §§ 254, 278 BGB ein Mitverschulden an dem Unfall zurechnen lassen. Ein Kraftfahrer, der ein Müllfahrzeug passieren wolle, müsse nach der Rechtsprechung des OLG Hamm, der sich die Kammer anschließe, einen Mindestabstand von 2 m oder Schrittgeschwindigkeit einhalten. Na...