Entscheidungsstichwort (Thema)

Kündigung. Abmahnung. Arbeitsunfähigkeit. Betriebsbedingtheit. Abkehrwille. Hierarchieebene. unternehmerische Entscheidung. Arbeitsplatzwegfall. Kündigung wegen verhaltens-, personen- und betriebsbedingter Gründe. Unbegründete außerordentliche Kündigung wegen Vorstellungsgespräch während krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. unbegründete betriebsbedingte Kündigung bei unsubstantiierten Darlegungen der Arbeitgeberin zum Wegfall der vom Arbeitnehmer geschuldeten Tätigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein arbeitsunfähig erkrankter Arbeitnehmer hat während seiner Ausfallzeit durch sein eigenes Verhalten dafür Sorge zu tragen, dass er die Phase der Arbeitsunfähigkeit möglichst zügig überwindet. Das bedeutet aber nicht, dass er stets nur das Bett zu hüten hat, oder jedenfalls die eigene Wohnung nicht verlassen sollte. Vielmehr ist auf die je vorliegende Krankheit abzustellen, um ermessen zu können, welche Tätigkeiten einem Arbeitnehmer während der Zeit der Arbeitsunfähigkeit untersagt sind.

2. Ein von einem Arbeitnehmer gezeigter Abkehrwille rechtfertigt nicht ohne weiteres die Kündigung. Solange der Arbeitnehmer seine vertraglichen Pflichten erfüllt, kann es ihm grundsätzlich nicht vorgeworfen werden, dass er sich nach einem anderen Arbeitsfeld umschaut. Artikel 12 Grundgesetz (GG) gewährt dem Arbeitnehmer die freie Arbeitsplatzwahl (Preis in Staudinger § 626 BGB Randnummer 126). Eine Kündigung kann daher allenfalls dann gerechtfertigt sein, wenn der Arbeitnehmer seine Pflichten im alten Arbeitsverhältnis zu Gunsten seiner zukünftigen Tätigkeit vernachlässigt (BAG 26. Juni 2008 - 2 AZR 190/07 - NZA 2008, 1415) oder wenn der Arbeitgeber die Chance hat, für den abkehrwilligen Arbeitnehmer eine andere Person einzustellen (BAG 22. Oktober 1964 - 2 AZR 515/63 - AP Nr. 16 zu § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung).

3. In den Fällen einer betriebsbedingten Kündigung, in denen die Organisationsentscheidung des Arbeitgebers und sein Kündigungsentschluss praktisch deckungsgleich sind, kann die ansonsten berechtigte Vermutung, die fragliche Entscheidung sei aus sachlichen Gründen erfolgt, nicht unbesehen greifen. Da die Kündigung nach dem Gesetz an das Vorliegen von Gründen gebunden ist, die außerhalb ihrer selbst liegen, muss der Arbeitgeber in solchen Fällen seine Entscheidung hinsichtlich ihrer organisatorischen Durchführbarkeit und zeitlichen Nachhaltigkeit verdeutlichen (BAG 24. Mai 2012 - 2 AZR 124/11 - DB 2012, 2402 = NZA 2012, 1223; BAG 16. Dezember 2010 - 2 AZR 770/09 - AP Nr. 186 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 165; BAG 17. Juni 1999 - 2 AZR 522/98 - BAGE 92, 61 = AP Nr. 102 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung). Daran fehlt es, wenn die Kündigung zu einer rechtswidrigen Überforderung oder Benachteiligung des im Betrieb verbleibenden Personals führen würde oder die zugrunde liegende unternehmerische Entscheidung lediglich Vorwand dafür wäre, bestimmte Arbeitnehmer aus dem Betrieb zu drängen, obwohl Beschäftigungsbedarf und Beschäftigungsmöglichkeiten objektiv fortbestehen und etwa nur der Inhalt des Arbeitsvertrags als zu belastend angesehen wird (BAG 24. Mai 2012 aaO.; BAG 23. Februar 2012 - 2 AZR 548/10 - NZA 2012, 852).

 

Normenkette

BGB §§ 626, 626 Abs. 2; KSchG § 1; GG Art. 12 Abs. 1; KSchG § 1 Abs. 2 S. 1 Alt. 2, § 1 Abs. 2 S. 1 Alt. 3, § 14 Abs. 2

 

Verfahrensgang

ArbG Stralsund (Entscheidung vom 07.02.2012; Aktenzeichen 1 Ca 307/11)

 

Tenor

1. Die Berufung wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten im Berufungsrechtszug inzwischen nur noch um die Frage, ob die arbeitgeberseitige außerordentliche und hilfsweise ordentliche Kündigung vom 22. August 2011 das Arbeitsverhältnis der Parteien beendet hat.

Der Kläger steht seit dem 1. April 2010 in einem Arbeitsverhältnis zu der Beklagten als Abteilungsleiter Reha-Technik zu einem monatlichen Bruttogehalt von 5.500,00 Euro. Außerdem steht ihm ein Dienstwagen, den er auch privat nutzen darf, zur Verfügung. Der zwischen den Parteien vereinbarte Arbeitsvertrag vom 19. Januar 2010, wegen dessen Wortlaut und Inhalt im Einzelnen auf Blatt 5 bis 7 der Akte Bezug genommen wird, lautet auszugsweise:

"§ 1 Tätigkeitsgebiet

1.

Der Mitarbeiter wird mit Wirkung ab dem 01. April 2010 als leitender Angestellter für den Aufgabenbereich Leitung, Entwicklung und Controlling im Sanitätsfachhandel, Orthopädietechnik, Schuhorthopädietechnik, Rehatechnik sowie der dazugehörenden Kostenstellen, im Einzugsbereich Mecklenburg/Vorpommern beschäftigt.

...

5.

Direkter Vorgesetzter des Mitarbeiters ist der Geschäftsführer der Gesellschaft.

§ 2 Prokura

Dem Mitarbeiter kann nach einer Einarbeitungszeit von 6 Monaten Prokura in Form der Gesamtprokura erteilt werden. ... Erfolgt keine Erteilung der Prokura, durch die Gesellschafterversammlung, entsteht ersatzweise, ohne dass dies einer neuen gesonderten Vereinbarung bedarf, ein reguläres unbefristetes A...

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