Vorbem. 4 Abs. 1, Nrn. 4100, 4106, 4108 VV RVG

Leitsatz

Hat in einem Hauptverhandlungstermin ein aussagepsychologischer Sachverständiger sein Gutachten erstattet, ist eine weitere Zeugin vernommen worden und wurden die Plädoyers gehalten, ist der für diesen Termin für den verhinderten Pflichtverteidiger beigeordnete Rechtsanwalt nicht bloß Terminsvertreter, sodass ihm nicht nur die Terminsgebühr, sondern auch Grundgebühr und Verfahrensgebühr zustehen.

LG Ulm, Beschl. v. 12.3.2024 – 1 Qs 7/24

I. Sachverhalt

Vor dem AG fanden am 12.6.2023 und 14.6.2023 Hauptverhandlungstermine gegen den Angeklagten statt, dem u.a. schwerer sexueller Missbrauch von Kindern vorgeworfen wurde. Der Vorsitzende hatte dem Angeklagten Rechtsanwalt R 1 als Verteidiger beigeordnet. Wegen dessen Verhinderung am 14.6.2023 bestellte er im Termin am 14.6.2023 Rechtsanwalt R 2 zum Verteidiger. Die Verfügung lautet wie folgt:

Zitat

"Herr Rechtsanwalt R 2 wird für die heutige Sitzung dem Angeklagten pp. als notwendiger Verteidiger wegen der Verhinderung des Rechtsanwalts R 1 zum heutigen Termin beigeordnet."

Rechtsanwalt R 2 hat dann beantragt, ihm eine Grundgebühr nach Nr. 4100 VV, eine Verfahrensgebühr nach Nr. 4106 VV, eine Terminsgebühr nach Nr. 4108 VV, sowie Auslagen und Umsatzsteuer festzusetzen. Die Kostenbeamtin ist davon ausgegangen, dass, da Rechtsanwalt R 2 lediglich als Vertreter für Rechtsanwalt R 1 aufgetreten sei, weder eine Grund- und Verfahrensgebühr noch eine Postentgeltpauschale angefallen seien.

Gegen diese Entscheidung hat Rechtsanwalt R 2 Erinnerung eingelegt. Das AG hat die Erinnerung als unbegründet zurückgewiesen. Die Beiordnung von Rechtsanwalt R 2 sei lediglich wegen der Verhinderung von Rechtsanwalt R 1 an dem Sitzungstag am 14.6.2023 erfolgt und hätte sich auch nicht auf einen außerplanmäßigen Fortsetzungstermin erstreckt. Eine unbeschränkte Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers sei nicht erfolgt. Tatsächlich handele es sich bei der Tätigkeit von Rechtsanwalt R 2 um eine Einzeltätigkeit nach Nr. 4301 Nr. 4 VV. Eine Verschlechterung sei indes nicht möglich. Eine Grund-, eine Verfahrens- und eine Terminsgebühr entstehen nur bei einer Beiordnung über die Einzeltätigkeit hinaus. Dies sei hier nicht der Fall. Rechtsanwalt R 2 hat dagegen Beschwerde eingelegt. Er hält auch die Festsetzung einer Grund- und einer Verfahrensgebühr sowie der Postentgeltpauschale für gerechtfertigt. Das Rechtsmittel hatte beim LG Erfolg.

II. Nochmals: Allgemeines zu den Gebühren des Terminsvertreters

Nach Auffassung des LG – Einzelrichter – stehen Rechtsanwalt R 2 neben der Terminsgebühr eine Grundgebühr sowie eine Verfahrensgebühr und darüber hinaus auch die Postentgeltpauschale zu.

Ob eine zeitlich befristete Bestellung zu einem weiteren Verteidiger oder eine auf einen Sitzungstag beschränkte Bestellung zum Vertreter vorliegt, hängt nach Ansicht des LG in erster Linie von der Formulierung der Verfügung des Vorsitzenden ab. Jedoch könne auch von Bedeutung sein, ob der zusätzlich bestellte Verteidiger gehalten sei, sich umfassend in den Verfahrensstoff einzuarbeiten und/oder eine zeitaufwendige den Termin vorbereitende Tätigkeit zu entfalten. In diesen besonderen Fällen liege keine bloße Vertretung mehr vor. Dann können über die Terminsgebühr hinaus weitere Gebühren (Grundgebühr, Verfahrensgebühr) anfallen. Ob dies der Fall ist, ist nach Auffassung des LG Ulm ggf. im Verfahren über die Festsetzung der dem Verteidiger zustehenden Vergütung zu ermitteln. Sofern dies angezeigt sei, seien Stellungnahmen der beteiligten Rechtsanwälte und des Vorsitzenden einzuholen. Auf diese Weise könnten auch etwaige Veränderungen, die sich wider Erwarten nach der Bestellung des weiteren Verteidigers ergeben haben, berücksichtigt werden. Lediglich eine Vertretung des Pflichtverteidigers liege beispielhaft in folgenden Fällen vor: Der zunächst bestellte Verteidiger sei in der letzten Stunde eines Termins verhindert und die Beweiserhebung betreffe weitgehend einen Mitangeklagten. Der Verteidiger sei an einem sogenannten "Schiebetermin" verhindert, an dem lediglich Registerauszüge oder Urteile aus früheren Verfahren verlesen werden. In einem Verfahren gegen mehrere Angeklagten betreffe die Beweisaufnahme ganz überwiegend einen Mitangeklagten, nicht aber den vom bestellten Verteidiger vertretenen Angeklagten (OLG Stuttgart, Beschl. v. 3.2.2011 – 4 Ws 195/10, AGS 2011, 224 = RVGreport 2011, 141 = StraFo 2011, 198).

III. Rechtsanwalt war zweiter Pflichtverteidiger

Ausgehend von diesen Grundsätzen sei im vorliegenden Verfahren Rechtsanwalt R 2 nicht als Vertreter des ursprünglich bestellten Verteidigers, sondern als zweiter Pflichtverteidiger anzusehen. Zwar spreche der Wortlaut der Verfügung lediglich für eine Beiordnung als Vertreter, jedoch bestehe hier die Besonderheit, dass im Termin am 14.6.2023 die aussagepsychologische Sachverständige Dr. pp ihr Gutachten erstattete, eine weitere Zeugin vernommen wurde und die Plädoyers gehalten wurden. Angesichts dieses Umfangs der Hauptverhandlung könne nicht von einem bloßen Terminsvertreter ausgegangen werden. Dies hat nach den Ausführungen des LG zur Folge...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge