§ 15 RVG; Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG

Leitsatz

Wird ein Rechtsanwalt zunächst einem Mandanten als Pflichtverteidiger "für die Dauer der Vernehmung eines Zeugen" beigeordnet und dann später als Pflichtverteidiger für das Verfahren, handelt es sich um dieselbe Angelegenheit, sodass eine Anrechnung von Gebühren in Betracht kommt.

OLG Zweibrücken, Beschl. v. 17.10.2023 – 1 Ws 200/23

I. Sachverhalt

Der Rechtsanwalt ist dem Angeklagten durch Beschl. des AG Speyer v. 16.12.2020 in einem Verfahren mit dem Vorwurf der Vergewaltigung für die Dauer der Vernehmung einer Zeugin beigeordnet worden. Das AG hat die aus der Staatskasse zu zahlenden Gebühren und Auslagen festgesetzt, und zwar die Grundgebühr Nr. 4100 VV, die Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV und eine Terminsgebühr Nr. 4102 Nr. 1 VV sowie die Auslagenpauschale Nr. 7002 VV angesetzt.

Auf Antrag der Staatsanwaltschaft hat das AG Speyer dann noch vor der Anklageerhebung am 21.10.2021 den Verteidiger mit Beschl. v. 21.4.2021 für das gesamte Verfahren beigeordnet. Nach Freispruch des Angeklagten hat das AG im Kostenfestsetzungsbeschluss bei den von der Staatskasse zu zahlenden Gebühren und Auslagen des Verteidigers für seine weitere Tätigkeit die Grundgebühr Nr. 4100 VV, die Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV, die Verfahrensgebühr für den ersten Rechtszug vor dem AG Nr. 4106 VV und drei Termingebühren Nrn. 4108 bzw. 4110 VV sowie die Auslagenpauschale Nr. 7002 VV angesetzt. Die dagegen eingelegte Erinnerung der Vertreterin der Landeskasse hatte ebenso keinen Erfolg wie die gegen die Entscheidung LG Frankenthai (Pfalz) eingelegte Beschwerde. Die zugelassene weitere Beschwerde hatte dann aber beim OLG Zweibrücken Erfolg.

II. Dieselbe Angelegenheit

Das OLG geht davon aus, dass es sich bei der Tätigkeit des Verteidigers bei der Vernehmung der Zeugin und der Tätigkeit als Verteidiger im Erkenntnisverfahren um dieselbe Angelegenheit gehandelt habe. Der Verteidiger sei demselben Angeklagten in demselben Strafverfahren während des Ermittlungsverfahrens zweimal beigeordnet worden. In diesem Fall stelle ein und dasselbe Strafverfahren – jedenfalls für jede Instanz – immer ein und dieselbe Angelegenheit i.S.v. § 15 Abs. 2 RVG dar (OLG Celle, Beschl. v. 25.8.2010 – 2 Ws 303/10, AGS 2011, 25; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 12.12.2013 – III 1 Ws 416/13, AGS 2014, 176; LG Landshut, Beschl. v. 23.3.2010 – 2 Qs 326/09; für das Revisionsverfahren OLG München, Beschl. v. 21.1.2008 – 4 Ws 3/08 <K>, AGS 2008, 224). Die von dem Rechtsanwalt übernommenen Aufgaben seien für die Beurteilung unerheblich, soweit sie in demselben Verfahren wahrgenommen werden (OLG Celle, a.a.O.). Die mehrfache Beauftragung eines Rechtsanwalts in derselben Angelegenheit regele § 15 Abs. 5 RVG. Nach S. 1 dieser Vorschrift erhalte der Rechtsanwalt, der in einer Angelegenheit, in der er bereits vorher tätig war, weiter tätig wird, nicht mehr an Gebühren, als er erhalten würde, wenn er von vornherein hiermit beauftragt worden wäre. Nach S. 2 der Vorschrift gelte dies nicht, wenn der frühere Auftrag seit mehr als zwei Kalenderjahren erledigt sei. Im vorliegenden Fall lägen zwischen den beiden Beiordnungen durch das AG Speyer keine zwei Jahre mit der Folge, dass der Verteidiger nur die Gebühren abrechnen könne, die er hätte abrechnen können, wenn er bereits am 16.12.2020 umfassend als Pflichtverteidiger beigeordnet worden wäre.

Der Umsetzung dieser Rechtslage stehe – so das OLG – auch nicht die Rechtskraft des Kostenfestsetzungsbeschlusses vom 6.4.2021 entgegen; denn der Inhalt dieses Beschlusses hindere die Anrechnung der bereits zuerkannten Gebühren und Auslagen auf den weiteren Gebühren- und Auslagenanspruch des Verteidigers nicht.

III. Bedeutung für die Praxis

Wir haben über die Entscheidung des AG Speyer und die Beschwerdeentscheidung des LG Frankenthal in AGS 2023, 258 und 349 berichtet. M.E. sind/waren diese vom OLG aufgehobenen Entscheidungen zutreffend und das OLG liegt falsch. Denn es übersieht, dass die Bestellung des Verteidigers im Ermittlungsverfahren nur für die "Dauer der Vernehmung der Zeugin" erfolgt, also zeitlich beschränkt ist. Sie war mit der Vernehmung beendet und es ist eine neue Beiordnung erfolgt. Es handelt sich also nicht um dieselbe Angelegenheit i.S.d. § 15 RVG. Insofern übersieht das OLG auch, dass die Tätigkeit des Rechtsanwalts während der Dauer einer Vernehmung etwas anders ist als Verteidigertätigkeit im Erkenntnisverfahren. Die vom OLG angeführte Rspr. stützt die falsche Auffassung des OLG i.Ü. nicht. Denn die den zitierten Entscheidungen zugrunde liegende Sachverhalte sind mit der hier vom AG und LG entschiedenen Konstellation nicht zu vergleichen. Es handelt sich u.a. um Fragen der Nebenklage und/oder der Vertretung mehrerer Adhäsionskläger. Da spielen m.E. ganz andere Fragen eine Rolle. Das OLG sieht es offenbar anders. Schade, aber gegen die geballte Intelligenz eines OLG-Senats kommt man (kaum) an.

Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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