Zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen

Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen in Unternehmen gehört zu den wichtigsten und gleichzeitig am stärksten vernachlässigten Vorschriften des Arbeits­schutzes. Im Gespräch mit zwei Psycho­loginnen analysiert unser Autor die Hinter­gründe und Möglichkeiten dieses wichtigen Instruments. 

Menschen sind unterschiedlich. Der eine ist resilient, der andere sensibel – und dementsprechend leiden sie auch unterschiedlich an besonderen Belastungen am Arbeitsplatz. Seit 2013 ist in § 5 Arbeitsschutzgesetz verankert, dass Unternehmen bei der Gefährdungsbeurteilung der Arbeitsbedingungen auch die Gefährdung durch psychische Belastungen (GB Psych) mit in den Blick nehmen müssen. Doch bis heute gehört diese Pflicht zu einer der am meisten vernachlässigten Pflichten des Arbeitsschutzes. 

Gefährungsbeurteilung durch psychische Belastungen ist gesetzlich verankert

Dem Gesetz ging die seit 1997 wachsende Zahl von psychischen Erkrankungen in der Gesellschaft voraus. "Zum Glück", wagt Arbeitspsychologin Ivon Ames, Vorstand der Sektion Wirtschaftspsychologie des Berufsverbands für Psychologen und -innen (BPD), zu sagen, weil das 16 Jahre später zu der Einsicht geführt hat, "dass es wichtig wäre, zu schauen, woran das liegt". Zwar mussten Unternehmen schon vor 2013 durch die im Arbeitsschutzgesetz verankerte Pflicht zur Gefährdungsbeurteilung jeglichen Schutz vor Gefahren, die von den Arbeitsbedingungen ausgehen, sicherstellen, doch die in der betrieblichen Praxis weit verbreitete Ignoranz der psychischen Komponente gegenüber hatte zur Folge, dass diese explizit in den Gesetzestext aufgenommen wurde. Ein Mittel, um jeglichem Interpretationsspielraum zuvorzukommen. Bis zu dem Zeitpunkt schien es in Betrieben eher üblich, zu behaupten, die Mitarbeitenden seien durch ihr Privatleben gestresst. Sie distanzierten sich von der Verantwortung. Dem kann Ames nur entgegnen: "Arbeitgeber können nicht sämtliche Belastungen von ihren Beschäftigten fernhalten. Aber sie können gestalten, welche Belastung auf der Arbeit hinzukommt." Das Arrangement einer solchen Beratung übernimmt beispielsweise der Berufsgenossenschaftliche Arbeitsmedizinische und Sicherheitstechnische Dienst (BAD). Kerstin Hilbrink arbeitet dort seit zehn Jahren als Gesundheitsmanagerin. Die Diplom-Psychologin weiß: "Unternehmen müssen den Zusammenhang zwischen Psyche und Arbeit erkennen."

Erst jüngst veröffentlichte die KKH, Kaufmännische Krankenkasse, Zahlen aus dem ersten Halbjahr 2023 mit bemerkenswerten Ergebnissen. Die Ausfallzeiten wegen psychischer Probleme sind im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 85 Prozent gestiegen. Die knapp 45 Milliarden Euro, die psychische Erkrankungen jährlich kosten, dürften ein weiteres triftiges Argument für ein notwendiges Handeln der Verantwortlichen sein. "Nur Herz-Kreislauf-Erkrankungen verursachen höhere Krankheitskosten – und sind ebenfalls in Teilen ein Produkt von Stress", gibt Ames zu bedenken. Überstunden, ständige Unterbrechungen, hohe Intensität, Konflikte und Zeitdruck können die Gesundheit gefährden. "Sobald unser Hormonhaushalt eine chronische Dysbalance erlebt, führt das zu Erkrankungen." Das lässt den Gedanken reifen, dass der Schlaganfall, den der Vertriebler auf der Autobahn erleidet, ein Resultat verstopfter Arterien ist, die durch chronischen Stress begünstigt werden. "Psychische Erkrankungen verursachen erhebliche Kosten. Meistens fallen Betroffene dreimal länger aus als bei anderen Erkrankungen", ergänzt Hillbrink.

Arbeiten und dabei psychisch gesund bleiben 

Im Jahr 2023, wieder zehn Jahre später, stellt der BPD fest: Nur etwa 20 Prozent der Unternehmen prüfen eine psychische Gefährdung ihrer Mitarbeitenden. Die aktuelle Whatsnext-Studie von Personalmagazin und Techniker Krankenkasse (siehe Schwerpunkt Personalmagazin 4/2023) ermittelte zwar verheißungsvollere Werte, denn 51,5 Prozent der dort befragten 1.098 Unternehmen gaben an, eine eine Gefährdungsbeurteilung durchzuführen. Doch auch dieser Wert zeigt Luft nach oben. Gleichzeitig legen die Studienergebnisse nahe, dass nicht viel Besserung zu erwarten ist: Seit 2020 hat sich der Anteil der  Unternehmen, die eine psychische Gefährdungsbeurteilung durchführen, kaum verändert, damals waren es 50,3 Prozent der knapp 1.200 teilnehmenden Organisationen. 

Grund für die kaum erfüllte Pflicht könnte die Auswirkung mehrerer Kuriositäten sein. "Auch heute wissen leider immer noch viele Unternehmen nicht, dass sie eine GB Psych durchführen müssen", sagt Ames. Hillbrink führt das auf einen Trugschluss der Arbeitgeber zurück: "Manche denken, sie müssten ihre Mitarbeitenden fragen, wie sie sich psychisch fühlen – und sagen sich ‘das kann ich doch nicht machen’, während die Beschäftigten denken, sie werden begutachtet". Das führe folglich zu falscher Scheu. Zudem sei die Bezeichnung missverständlich gewählt, meint die Expertin: "Im Arbeitsschutz ist der Begriff Belastung neutral gemeint. Psychische Belastungen sind alle Einflüsse, die auf mich einwirken. Das kann auch Positives sein, das kann bereichern. Trotzdem ist das Wort umgangssprachlich sehr negativ besetzt." Dabei gehe es doch gar nicht darum, alle Belastungen abzuschaffen, will Hillbrink betonen: "Es geht darum, die Bedingungen so zu gestalten, dass man psychisch gesund bleiben kann." Denn Arbeit gehe immer auch mit Belastung einher. 

"Unternehmen konnten sich nach Einführung des Gesetzes noch eine Weile ausruhen, weil unklar war, welche Arbeitsbedingungen evaluiert werden sollen. Seit 2017 gibt es hierzu aber eine klare Empfehlung", sagt Ames. Damit gemeint sind die Merkmalsbereiche, die von der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) definiert wurden. Dieser Fakt wird durch Hillbrinks Erfahrung gestützt. Noch heute hegen insbesondere die Geschäftsführenden ein falsches Verhältnis zu diesem Terrain: "Bei dem Wort Psyche sind einige Geschäftsführende schon raus, weil sie Sorge haben, dass sie die Büchse der Pandora öffnen, die sie nicht händeln können." 

Gefährdungsbeurteilung: Kontrolle allein genügt nicht

Das Dilemma hängt auch mit fehlender Kontrolle zusammen. Sollte es dennoch zu einer kommen, wird Nichteinhaltung als Ordnungswidrigkeit geahndet. Ein Bußgeld von 5.000 bis 30.000 Euro kann verhängt werden. Verantwortlich dafür sind das Landesamt für Arbeitsschutz oder die Gewerbeaufsicht. "Aber wo kein Kläger, da kein Richter", beklagt Ames die fehlende Intervention der Behörden. Auch wenn Folgendes zu beachten ist, wie Hilbrink anmerkt: "Behördliche Kontrolle kann das nicht leisten und ist überfordert." Doch wie Unternehmen selbst nach amtlicher Intervention mit dem Problem umgehen, mutet charakteristisch an: "Es haben Geschäftsführer bei uns angefragt, wie man das möglichst schmerzfrei umsetzen kann – und bitte, ohne etwas zu finden." 

Die Zahlen der Arbeitsschutzbehörde in Hamburg aus dem Jahr 2022 untermauern das Sprichwort der Juristerei: Bei knapp 52.000 Unternehmen hat sie in 517 Betrieben eigeninitiativ eine Inspektion durchgeführt, in 117 Fällen gab es für die Inspektion einen Anlass. Daraus entstanden wiederum 109 Anordnungen, in denen die Kontrolle psychischer Belastungen bemängelt wurde. 12 Betriebe wurden daraufhin abgestraft. Besonders interessant: Auch Arbeitnehmende haben das Recht, eine GB Psych  einzufordern. Das geht beispielsweise über ein Dokument der jeweiligen Behörde (Beispiel Hamburg). In der Hansestadt kamen auf über eine Million Arbeitnehmende lediglich sechs Mängelmeldungen. Trotzdem bleibt festzuhalten: Der Arbeitsschutz berät auf Nachfrage und bietet online den unterstützenden Psych-Kompass an. 

Die geringe Anzahl gemeldeter Fälle dürfte vor allem damit zusammenhängen, dass das Individuum seinem Arbeitgeber nicht schaden will. Es liegt aber auch an unserem Umgang mit der eigenen Gefühlswelt. "Unter hohen Belastungen zu arbeiten, ist immer noch etwas, worauf man stolz ist", bedauert Hillbrink, "aber wenn jemand Depressionen bekommt, wird das als persönliche Schwäche ausgelegt – und das vermittelt einem das Gefühl, man hätte nicht geschafft, etwas auszuhalten."

Forderung nach Betriebspsychologinnen

Die Frage will erlaubt sein: Warum wird hierzulande nicht mit Nachdruck gehandelt, wenn es um die psychische Gesundheit von Menschen geht? Unsere europäischen Nachbarn Niederlande, Schweden und Frankreich haben Burnout als Berufskrankheit anerkannt. Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sieht das so. Für Deutschland, Österreich und die Schweiz gilt das nicht. Zumindest die Eidgenossen müssen das nun prüfen, denn eine Beamtin verklagte den Staat wegen beruflich erlittener Gesundheitsschäden – und gewann.

Am Beispiel Frankreich, das das Versäumnis einer umfassenden BG streng belangt, wird der anders gewichtete Stellenwert klar: Der Arbeitgeber haftet komplett, wenn ein Mitarbeitender aufgrund von psychischer Belastung arbeitsunfähig ist. Ist das länger als drei Monate der Fall und der Arbeitgeber hätte das per Gefährdungsbeurteilung sehen können, sind drei Jahre Freiheitsstrafe oder 45.000 Euro Geldstrafe die Folge. In den Niederlanden sind es sogar 76.000 Euro. 

Im europäischen Vergleich ist die Bundesrepublik im Umgang mit psychosozialen Risiken am Arbeitsplatz unterdurchschnittlich. Nur Osteuropa hinkt noch mehr hinterher. Vorne liegen skandinavische Länder und an der Spitze Großbritannien. Das ermittelte die EU-OSHA.

Nach Überzeugung von Ames sind die ungeklärten Zuständigkeiten im Betrieb ein weiterer Faktor. Grundsätzlich soll der Arbeitgeber in einer Gefährdungsbeurteilung klären, ob bestimmte Umstände zu einer Gefährdung der Beschäftigten führen und wie dieses Risiko einzudämmen ist. Konkrete Vorgaben, wie die Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung im Unternehmen vor sich gehen soll, findet man im Arbeitsschutzgesetz allerdings nicht. Das Gesetz verpflichtet den Arbeitgeber lediglich, diese selbst oder durch Fachpersonal nach geeigneter Unterweisung durchzuführen. In der Regel werden hierzu Betriebsärzte beziehungsweise -ärztinnen und Fachkräfte für Arbeitssicherheit hinzugezogen, professionelle Beratung und Unterstützung bieten auch arbeitsmedizinische Dienste. 

"Häufig," kritisiert Ames, "stehen hier die psychischen Belastungsfaktoren nicht im Fokus. So ist es nur verständlich, dass sich hier und da gewisse Unsicherheiten in der Erfassung der Beurteilung zeigen." Daher sei die zusätzliche Unterstützung durch Arbeitspsychologen und -psychologinnen unerlässlich. Hilbrink sieht die Probleme nicht bei den operativen Instanzen, sondern bei den Verantwortlichen. Das geht aus ihren Erkenntnissen in den Zusammenkünften des Arbeitsschutzausschusses (ASA) hervor, die jedes Unternehmen einmal im Quartal durchführen muss: "Betriebsärztinnen und Fachkräfte sprechen das häufig an. Ich glaube nicht, dass sie da Hemmungen haben. Doch verantwortlich ist der Unternehmer. Wenn die Geschäftsführung nichts initiiert, obwohl alles protokolliert ist, passiert eben nichts." 

Gefährdungsbeurteilung in der Praxis 

Was tun? "Es gibt viele Bedingungen, die wir verändern können, um zu vermeiden, dass zu den nicht veränderbaren Umständen auch noch veränderbare Dinge hinzukommen. Wir können dafür sorgen, dass es eine Rollenklarheit gibt, dass Informationen schnell auffindbar sind und nicht zu viel werden und dass es keine Konflikte unter den Kolleginnen und Kollegen gibt", sagt Ames. 

Wie das konkret geht, kann Ames gemeinsam mit ihrem Kollegen Prof. Dr. Jan Dettmers erklären. Das Duo hat das Unternehmen EVAO gegründet, Kurzform für "Evidenzbasierte Arbeitsgestaltung und Organisationsentwicklung". Sie arbeiten mit dem Auftraggeber Stressoren (Arbeitsbedingungsfaktoren) und Ressourcen (Unterstützungsfaktoren) aus. Über Fragebögen werden Unklarheiten ermittelt und Optimierungspotenziale abgeleitet. 

BAD-Gesundheitsmanagerin Hillbrink setzt häufig eine moderierte Analyse um, das kommt auf die Größe der Organisation an. Umso mehr Interessen, desto geeigneter der Fragebogen. Bei kleineren Gruppen geht sie wie folgt vor: "Wir stellen Fragen zu Bereichen, die analysiert werden müssen, und die Gruppe muss sich über die Belastung austauschen und auf eine Antwort einigen." Die Probleme werden fixiert und in der Folge Lösungsvorschläge und Maßnahmen diskutiert. Dieser Runde sitzen Mitarbeitervertretungen, Ärztinnen und Ärzte, die Fachkräfte für Arbeitssicherheit und die Geschäftsführung bei. Letztere meistens erst bei dem Entwickeln der Maßnahmen.

Schließlich sei eine psychische Erkrankung aber nicht monokausal. "Es stimmt einfach nicht, dass nur der Arbeitsplatz krank macht. Aber wenn Führungskräfte sich aus der Verantwortung ziehen, ist das genauso falsch", resümiert Hillbrink. Unwissenheit schützt vor Pflichten nicht. Wer die Menschen befragt, bekommt Antworten. Man muss sie nur auch hören wollen.


Dieser Beitrag ist erschienen in Personalmagazin 4/2024. Als Abonnent haben Sie Zugang zu diesem Beitrag und allen Artikeln dieser Ausgabe in unserem Digitalmagazin als Desktop-Applikation oder in der Personalmagazin-App.


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