Doppelbesteuerungsabkommen, Treay override verfassungswidrig

Vorlage an das BVerfG: Ist der für die Steuerfreistellung geforderte Nachweis, dass der Abkommensstaat auf sein Besteuerungsrecht verzichtet hat oder die Steuern entrichtet wurden, verfassungsgemäß?

Hintergrund
Mit "Treaty override" wird eine Regelung bezeichnet, mit der sich der Steuergesetzgeber über völkerrechtliche Verpflichtungen aus einem DBA oder einem anderen internationalen Vertrag hinwegsetzt. Der BFH hat nun dem BVerfG die seit langem offene Frage vorgelegt, ob ein Treaty override verfassungswidrig ist.

Die Eheleute A haben einen Wohnsitz im Inland und sind daher mit ihrem Welteinkommen steuerpflichtig. Nach dem DBA-Türkei aus 1985 ist jedoch für in der Türkei erzielte Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit das deutsche Besteuerungsrecht ausgeschlossen. Deutschland kann solche Einkünfte lediglich bei der Festsetzung des Steuersatzes für die im Inland steuerpflichtigen Einkünfte berücksichtigen (sog. Progressionsvorbehalt). Die Steuerfreistellung wird nach dem EStG allerdings nur gewährt, soweit der Steuerpflichtige nachweist, dass der der Staat, dem das Besteuerungsrecht zusteht (hier: Türkei) auf dieses Besteuerungsrecht verzichtet hat oder dass die dort festgesetzten Steuern entrichtet wurden. Das Besteuerungsrecht fällt dann an Deutschland zurück (§ 50d Abs. 8 EStG). Unter diesen Voraussetzungen setzt sich das EStG somit einseitig über die Freistellung nach dem DBA hinweg.

Der Ehemann A hatte als Arbeitnehmer für eine inländische GmbH in der Türkei gearbeitet. Das FA behandelte auch seinen Arbeitslohn aus dieser Tätigkeit als steuerpflichtig, da A nicht nachgewiesen hatte, dass er in der Türkei entsprechende Einkommensteuer bezahlt oder dass die Türkei auf die Besteuerung verzichtet hatte. Das FG wies die Klage ab.

Entscheidung
Nach der Auffassung des BFH verstößt das Nachweiserfordernis in § 50d Abs. 8 EStG gegen das DBA und damit gegen den Vorrang der völkerrechtlichen Regeln (Art. 25 GG). An der früher auch vom BVerfG vertretenen Auffassung, wonach es dem Gesetzgeber unbenommen bleibt, einen Völkerrechtsvertrag zu "überschreiben", hält der BFH nicht mehr fest. Für die Abweichung vom Vorrang des Völkerrechts liegt kein "Rechtfertigungsgrund" vor. Insbesondere ist ein solcher Grund nicht darin zu sehen, dass Einkünfte in beiden Staaten unbesteuert bleiben und "weiße Einkünfte" entstehen ("Keinmalsteuer"). Außerdem bestehen Gleichheitsverstöße: Denn ein im Ausland arbeitender Arbeitnehmer wird - entgegen dem Abkommen - wie ein im Inland arbeitender Arbeitnehmer behandelt und auch gegenüber einem Steuerpflichtigen mit anderen Einkünften benachteiligt.

Anmerkung
Die Bedeutung des Normenkontrollersuchens des BFH geht über den vorliegenden Fall hinaus. Denn der deutsche Gesetzgeber hat auch in anderen Fällen von dem umstrittenen Mittel des Treaty overriding Gebrauch gemacht, um eine "Keinmalbesteuerung" zu vermeiden. Der BFH hat schon in früheren Entscheidungen insoweit Zweifel geäußert, denen von der Verwaltung widersprochen wird. Die Klärung obliegt nun dem BVerfG.

Beschluss v. 10.2.1012, I R 66/09, veröffentlicht am 9.5.2012