Erkenntnisse zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens

Am 21.09.2015 hat das 56. Berliner Steuergespräch stattgefunden. Es beschäftigte sich mit der geplanten Modernisierung des Besteuerungsverfahrens, dessen angedachte Veränderungen sich derzeit noch im Entwurfsstadium befinden.

Namhafte Vertreter aus Finanzverwaltung (MRin Angelika Buchwald, BMF und Werner Seitz, Finanzministerium Baden-Württemberg, Stuttgart), des deutschen Steuerberaterverbandes (Norman Peters, Deutscher Steuerberaterverband e.V., Berlin) und Justiz (Dr. Nils Trossen, BFH, München) diskutierten unter Moderation von Prof. Dr. h.c. Rudolf Mellinghaus über die geplanten Änderungen innerhalb der AO, die im Beitrag vom 17.09.2015 bereits dargestellt worden sind.

Die Kernpunkte der Diskussion lassen sich wie folgt zusammenfassen:

1. Einführung des Risikomanagementsystems (RMS) und Aussteuerung von Einzelfällen


Zur Einführung des Risikomanagementsystems und der Aussteuerung von Steuererklärungen bemerkte Seitz, dass das RMS fest, klar und eindeutig sein müsse, um eine Steuergerechtigkeit i.S.d. Art. 3 GG zu ermöglichen. Zudem sei das RMS regelmäßig zu überprüfen und ggf. anzupassen, um die angestrebte Verfahrensgerechtigkeit ermöglichen zu können. Er begrüßte die Einführung des RMS, da dessen Nutzung es ermögliche, die Arbeit innerhalb der Finanzverwaltung besser nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu organisieren. Ziel sei die Erhöhung der Anzahl automatisiert veranlagter Erklärungen zur effektiveren Verwendung von Personalressourcen. Gleichzeitig müssten die einzuführenden qualifizierten Freitextfelder beachtet werden, um eine sachgerechte Bearbeitung der Steuererklärung zu gewährleisten. Diese sollen es Steuerpflichtigen und ihren Beratern ermöglichen von der Finanzverwaltung abweichende Rechtspositionen zu erläutern bzw. Hintergründe für die Erstellung der Steuererklärung maßgeblicher Fakten darzustellen.

Trossen ergänzte zum RMS, dass dieses nach seiner Einführung schnell zum Objekt von FG- und BFH-Entscheidungen werden würde. Aus diesem Grund sei eine eindeutige gesetzliche Regelung zum Einsatz und zur Kompetenz des RMS notwendig, um Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden. Steuerpflichtige könnten ansonsten im Moment der Aussteuerung ihres persönlichen Einzelfalles den Rechtsweg beschreiten, um die Gründe zu erfahren. Eine gesetzlich unklare Regelung des RMS sorge des Weiteren für eine zu hinterfragende Gleichmäßigkeit der Besteuerung, die durch das RMS angestrebt werde. Gleichermaßen sei das RMS dazu geeignet "einfache" Steuererklärungen von Rentnern und Arbeitnehmern, deren steuerliche Situation der Finanzverwaltung durch die Datenübertragung Dritter weitestgehend bekannt sei, schnell und unkompliziert zu veranlagen.

Weiterer Diskussionsbedarf ergab sich aus der Rolle des RMS innerhalb von (höchst-)finanzgerichtlichen Verfahren. Derzeit ist nach Angaben des BMF geplant, die Parameter, die zu einer Aussteuerung eines Einzelfalls führen, vollständig geheim zu halten. Im Verfahren vor einem FG bzw. dem BFH sei diese Haltung jedoch nicht länger aufrecht zu erhalten. Trossen merkte diesbezüglich an, dass die Geheimhaltung der Parameter in einem Klageverfahren durch die Anwendung des sog. "In-camera-Verfahrens" gewährleistet werden könne. Hierdurch werden dem Gericht entscheidungserhebliche Informationen nach Ausschluss der Öffentlichkeit vorgelegt, die vorher geheim gehalten worden sind. Die Rechtsgrundlage im Finanzgerichtsverfahren stellt § 86 FGO dar.

Buchwald führte an, dass nur die einzelnen Stellschrauben des RMS geheim bleiben sollten; gleichermaßen solle ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Darlegung und Geheimhaltung im Klageverfahren die Steuergerechtigkeit i.S.d. Art. 3 GG aufrechterhalten. Peters bemerkte, dass die derzeit manuelle Aussteuerung von Steuererklärungen (i. S. v. Nachfragen des Finanzamts) ebenfalls anfällig sei. Hier sei die Variable "Mensch" dafür verantwortlich, ob und inwieweit erklärungsgemäß veranlagt werden würde. Dieses sei jedoch im höchsten Maße vom einzelnen Sachbearbeiter abhängig und könne nicht standardisiert werden. Durch das RMS erhöhe sich die Rechtssicherheit des Steuerpflichtigen durch eine Standardisierung der Aussteuerungsmerkmale. Drüen betonte, dass diese Merkmale auf keinen Fall bekannt werden dürften, um ein entsprechendes angepasstes Erklärungsverhalten der Steuerpflichtigen und ihrer Berater auszuschließen. Dies sei bereits vor dem Hintergrund der Steuergerechtigkeit des Art. 3 G anzustreben. Aus dem Auditorium wurde eingewendet, dass eine vollständige Geheimhaltung der "Aussteuerungsparameter" des RMS vor dem Hintergrund investigativer Blogger praktisch ausgeschlossen sei.

2. Geplante Änderungen der Korrekturnormen (§§ 173a AO, 175b AO)

Die innerhalb des Entwurfs geplanten Änderungen der Korrekturnormen §§ 173a AO, 175b AO wurden innerhalb der Diskussionsrunde angeregt diskutiert. Derzeit können offenbare Unrichtigkeiten i.S.d. § 129 AO, die dem Finanzamt durch die Übernahme von eindeutig falschen Zahlen (bspw. Übernahme von 10.000 EUR Sonderausgaben statt wie gemeint 1.000 EUR) des Steuerpflichtigen unterlaufen, nicht gem. § 129 AO berichtigt werden. Solche Übertragungsfehler sollen zukünftig durch § 173a AO berichtigt werden können, wenn diese eindeutig und für den Erlass des Steuerbescheides rechtserheblich gewesen sind. Die allgemeinen Grundsätze für die Feststellungslast gelten bei § 173a AO entsprechend. Des Weiteren entspreche die Anwendung von § 173a AO keiner Ermessensentscheidung des Finanzamts, die Anwendung ist zwingend geboten ("Ermessensreduzierung auf null"). Gleichermaßen sorgt sie für eine Ablaufhemmung, so dass die Festsetzungsfrist nicht vor Ablauf des nach Bekanntgabe des auf der fehlerhaften Grundlage ergangenen Steuerbescheides endet.

Hinsichtlich der Anwendung des § 175b AO wurde durch die Diskutanten betont, dass die von Dritten mitgeteilten Daten keinen Grundlagenbescheidcharakter für den Erlass des Steuerbescheides annehmen. Trotz der Verschärfung der Datenübermittlungsfristen, insbesondere dem Haftungstatbestand des § 93c Abs. 5 AO, würden die von Dritten ausschließlich übermittelten Daten lediglich der Unterstützung der Finanzbehörden dienen. Sofern diese nicht korrekt übermittelt worden sind, stellt § 175b AO die anzuwendende Korrekturnorm dar. Kommen dem Steuerpflichtigen die innerhalb der Veranlagung verwendeten Daten Dritter nicht plausibel vor, muss dieser eine Überprüfung bei der datenübermittelnden Stelle beantragen. Diese Annahme wurde kontrovers diskutiert: Peters stellte heraus, dass auf diese Daten bei Insolvenz, Outsorcing oder betrieblichen Umstrukturierungen der ursprünglich zuständigen Stelle nicht oder nur eingeschränkt zugegriffen werden könne. Da der Steuerpflichtige die Feststellungslast für Änderungen des Steuerbescheides gem. § 175b AO zu seinen Gunsten trägt, muss dieser den Beweis für eine falsche Übermittlung seiner Daten liefern.

3. Einführung einer Belegvorhaltepflicht anstatt einer Belegvorlagepflicht

Ein weiterer Diskussionspunkt war die angestrebte Belegvorhaltepflicht anstatt der derzeit (praktizierten) Belegvorlagepflicht. Nach Auffassung von Drüen können die Aufzeichnungspflichten des § 147a  AO nicht auf private Einkünfte bzw. Sonderausgaben oder außergewöhnliche Belastungen übertragen werden. Eine gesetzliche Regelung der Mindestbelegvorhaltepflicht sei daher angemessen, um für Rechtssicherheit zu sorgen. Diesbezüglich schlug Peters vor, eine Pflicht zur Aufbewahrung sämtlicher Belege bis zur Ende der Festsetzungsfrist gesetzlich zu manifestieren. Zur Bearbeitung von Steuererklärungen sei eine eindeutige Regelung hinsichtlich der Einsendung von Belegen erstrebenswert: Entweder seien alle Belege in Papier- bzw. digitaler Form einzureichen oder kein Beleg einzureichen. Das derzeitige Anfordern und Übersenden von Belegen auf Nachfrage des Finanzamts belaste die Steuerberater durch zusätzlichen Verwaltungsaufwand. Gemäß Seitz sei die Aufbewahrung von Belegen bei Bestandskraft des Bescheides entbehrlich; gleichermaßen seien Belege im Einspruchsverfahren unbedingt aufzubewahren, um vorgebrachte Tatsachen beweisen zu können. Hinsichtlich der Einsendung von Belegen schlug er vor, dass nur bedeutsame Belege eingesendet werden sollten bzw. diese in Ausnahmefällen eingereicht werden sollten. Sofern der Bescheid automatisch erlassen werde, sollten keine Belege angefordert werden.

Zur Vereinfachung des Verfahrens ist die digitale Übermittlung von Belegen geplant, um den Steuerpflichtigen an dieser Stelle zu entlasten. Gleichermaßen sollen Papierbelege weiterhin eingereicht werden können, um technikaverse Steuerbürgern nicht zu benachteiligen. Die Vorhaltepflicht von Belegen zur Vorlage beim Finanzamt sei noch klärungsbedürftig und solle in den nächsten Etappen des Gesetzgebungsverfahrens berücksichtigt werden. Buchwald betonte, dass zum jetzigen Zeitpunkt kein fachliches Konzept zur Übermittlung elektronischer Belege bestehe. Dieses sei aufgrund diverser Dateiformate, Portale und technischer Umsetzbarkeit schwierig. Der Zeitplan von sechs Jahren bis zur Umsetzung dieses Konzepts solle jedoch in jedem Fall erfüllt werden. Die Bedeutung der digitalen Übermittlung von Belegen wurde durch Seitz unterstrichen. Das Sichten und Zurücksenden nicht angeforderter Belege koste die Finanzverwaltung Zeit und Geld. Aus diesem Grund sollen die Formulare hinsichtlich der Notwendigkeit zu übersendender Belege zur Steuererklärung überprüft werden, um den Verwaltungsaufwand zu reduzieren.

Das 56. Berliner Steuergespräch hat gezeigt, dass die grundsätzliche Ausrichtung des Entwurfs von sämtlichen Diskutanten und den von ihnen vertretenen Interessengruppen mehrheitlich begrüßt wird. Aufgrund des derzeitigen Entwurfsstadiums sind weitere Änderungen zu erwarten, bevor der Entwurf zur ersten Lesung in den Bundestag eingebracht werden wird. Diesbezüglich sind insbesondere die diversen Stellungnahmen der Verbände von großem Interesse, die ab Freitag veröffentlicht und dem BMF mitgeteilt werden sollen.