Richter muss bei angekündigter kurzer Verspätung warten

Kündigt der Betroffene 15 Minuten vor Terminsbeginn eine Verspätung von bis zu 30 Minuten an, weil er 1,5 Kilometer vom Gerichtsgebäude entfernt in einem Taxi im Stau steht, darf das Amtsgericht seinen Einspruch auch dann nicht verwerfen, wenn es weitere Verfahrensbeteiligte eilig haben. Das hat das Kammergericht in Berlin entschieden.

Ein Amtsrichter musste sich vom Kammergericht etwas Geduld gegenüber verspäteten Verfahrensbeteiligten ans Herz legen lassen. Die Rechtsschutzgarantie sei höher zu veranschlagen als die zügige Abarbeitung der Termine und der Zeitplan geladener Sachverständiger und Zeugen.

Einspruch wegen Verspätung zum Termin verworfen

Das Amtsgericht Tiergarten hatte den Einspruch eines Betroffenen gegen einen Bußgeldbescheid des Polizeipräsidenten in Berlin nach § 74 Abs. 2 OWiG ohne Verhandlung zur Sache verworfen.

Er sei trotz ordnungsgemäßer Ladung zur Hauptverhandlung und ohne genügende Entschuldigung nicht erschienen und von der Verpflichtung zum Erscheinen nicht entbunden worden.

Verfahrensrüge des Verspäteten hatte Erfolg

Die gegen dieses Urteil gerichtete Rechtsbeschwerde hatte mit der zulässig erhobenen Verfahrensrüge Erfolg.

  • Nach den Feststellungen des Kammergerichts bestiegen der Betroffene und sein Verteidiger am Terminstag um 8.30 Uhr ein Taxi,
  • um an der auf 9.15 Uhr terminierten Hauptverhandlung teilzunehmen.
  • Etwa 1,5 Kilometer vom Gerichtsort entfernt staute sich der Verkehr.
  • Der Verteidiger unterrichtete um 9.01 Uhr die Geschäftsstelle des Amtsgerichts, dass und wo er im Stau stehe
  • und dass es zu einer Verspätung um 15 bis 30 Minuten kommen könne.
  • Um 9.25 Uhr erreichte das Taxi das Amtsgericht,
  • um 9.32 Uhr betraten der Betroffene und sein Verteidiger den Gerichtssaal.

Zu spät: Zwei Minuten zuvor hatte das Amtsgericht die Sache aufgerufen, einen Zeugen und den Sachverständigen entlassen und den Einspruch des Betroffenen durch das angefochtene Urteil verworfen.

Gericht hätte warten müssen

Nach § 72 Absatz 2 OWiG muss das Gericht den Einspruch ohne Verhandlung zur Sache durch Urteil verwerfen, wenn der Betroffene ohne genügende Entschuldigung ausbleibt, obwohl er von der Verpflichtung zum Erscheinen nicht entbunden war.

Diese Voraussetzungen hielt das Kammergericht vorliegend nicht für gegeben. Vielmehr wusste das Amtsgericht, dass der Betroffene seinen Einspruch weiterverfolgen wollte und sich verspäten würde.

  • Es war dem Amtsgericht auch zuzumuten zu warten. Denn der Verteidiger hatte 14 Minuten vor der Terminsstunde mitgeteilt, dass er sich etwa 1,5 Kilometer vom Gerichtsgebäude entfernt im Stau befinde.
  • Damit ergab sich eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Betroffene und sein Verteidiger allenfalls kurz nach dem Ablauf der üblichen Wartezeit von 15 Minuten erscheinen würden“, betonte das Gericht.

Sachverständige dürfen Termine nicht zu kurz takten

Auch die Behauptung des Amtsgerichts, ein weiteres Zuwarten sei nicht zumutbar gewesen, überzeugten das Kammergericht nicht.

  • Dass der zu diesem und zu dem nachfolgenden, auf 9.35 Uhr anberaumten Termin geladene Sachverständige, erklärt hatte, länger als bis 10.05 Uhr könne er keineswegs im Saal K 2105 anwesend sein,
  • "führt nicht dazu, dass das Amtsgericht kurzen Prozess machen durfte. Wie dargelegt, war abzusehen, dass die ausdrücklich angekündigte Verspätung 15 Minuten nur geringfügig und jedenfalls nicht erheblich überschreiten würde.
  • Sollte der Sachverständige seine Termine tatsächlich so eng getaktet haben, dass ein Verzug nicht abgefedert werden konnte, so wäre dies unangemessen“,

schlussfolgerte das Kammergericht.

Auch Polizeibeamte müssen als Zeugen Zeit mitbringen

Dasselbe gelte für den als Zeugen geladenen Polizeibeamten, der angeblich auch nicht länger warten konnte. „Verzögerungen des hier in Rede stehenden Umfangs muss der polizeiliche Zeuge ebenso in Rechnung stellen wie die Vorsitzenden anderer Gerichte, die den Zeugen gleichfalls geladen haben“, befand das Gericht.

Rechtsschutzgarantie wichtiger als etwas Warterei

Zwar treffe es zu, dass das Amtsgericht nicht nur die Interessen des Betroffenen, sondern auch die Belange anderer Verfahrensbeteiligter und eine geordnete Gestaltung des ohnehin einer Vielzahl von Unwägbarkeiten und Störungen ausgesetzten Verhandlungstags im Blick haben müsse.

„Bei der hier zu beurteilenden Sachlage – der Betroffene meldet sich noch vor Terminsbeginn und befindet sich bereits in letztlich fußläufiger Nähe zum Gerichtsgebäude – überwiegen freilich die verfassungsrechtlich verbürgten Rechtsschutzgarantien. Sie gebieten weiteres Zuwarten“, mahnte das Kammergericht an.

(KG, Beschluss vom 21.7.2016, 3 Ws (B) 382/16 - 122 Ss 107/16).