Recruiting: Kehrt die anonyme Bewerbung zurück?

Trend verpennt? Die anonyme Bewerbung wurde in Deutschland debattiert und ausprobiert – durchgesetzt hat sie sich nicht. Nun erlebt sie im Ausland einen Aufschwung. Hierzulande könnte sie als Mittel gegen Diskriminierung und für mehr Diversity helfen, Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

Den eigenen Namen und andere Daten, die auf die ethnische, kulturelle oder soziale Herkunft schließen lassen, geschwärzt, der Lebenslauf selbstverständlich ohne Bild: So können sich im Vereinigten Königreich inzwischen Graduierte auf Vakanzen bei einigen großen Arbeitgebern bewerben – unter anderem beim Medienunternehmen BBC und dem Beratungsunternehmen Deloitte.

Namen geändert, Interview-Einladung bekommen

Grund dafür ist eine Initiative von Premierminister David Cameron, der einige britische Top-Unternehmen zur Teilnahme verpflichtet hat, wie die Zeitung "The Telegraph" berichtet. "Wissen Sie, dass in unserem Land heute Menschen mit einheimisch klingenden Namen fast zweimal so häufig eine Reaktion auf ihre Bewerbung bekommen wie Menschen mit ausländisch klingenden Namen – auch, wenn sie genau die gleiche Qualifikation haben?", begründete Cameron seine Entscheidung bei einer Rede in Manchester, die der "Telegraph" zitiert.

Cameron nannte dafür ein Beispiel: "Ein schwarzes Mädchen musste erst ihren Namen in 'Elizabeth' ändern, bevor sie eine Einladung zum Jobinterview bekam. Das ist im Großbritannien des 21. Jahrhundert eine Schande", so der Premierminister.

Auch Kevin und Chantal sind Opfer von Diskriminierung

Cameron spricht damit ein Problem an, das es auch in Deutschland gibt: dass Bewerber aufgrund ihres Namens diskriminiert werden. Im vergangenen Jahr ergab etwa eine Studie der Bosch-Stiftung, dass Jugendliche mit einem türkischen Namen schlechtere Chancen auf einen Ausbildungsplatz haben als jene mit einem deutsch klingenden Namen.

Aufgrund ihres Namens diskriminiert werden jedoch nicht nur ethnische Minderheiten. Aus einer  Masterarbeit aus dem Jahr 2009, über die Spiegel Online berichtete, geht hervor: Lehrer trauen Kindern mit Namen wie Maximilian, Marie, Lukas und Nele mehr zu als ihren Klassenkameraden mit Namen wie Kevin, Chantal, Justin, Dennis, Marvin und Jaqueline.

Anonyme Bewerbung als Bewerbungsmultiplikator?

Um solchen Diskriminierungen entgegenzuwirken, haben in Großbritannien neben Deloitte nun auch andere Beratungsunternehmen wie Ernst and Young und Pricewaterhouse Coopers (PWC) anonymisierte Bewerbungsverfahren gestartet, wie Spiegel Online kürzlich berichtet hat.

Die Recruiter bei diesen Beratungsunternehmen setzen im Lebenslauf den Edding nicht nur an, um den Bewerbernamen, sondern auch den Namen der Uni zu schwärzen, die die Bewerber besucht haben.

In den USA oder England lässt der Name der Uni – deutlich mehr als in Deutschland – nicht nur auf den eigenen Wissensstand, sondern auch ziemlich gut auf die Situation im eigenen Portemonnaie oder dem der Eltern schließen: Hohe Studiengebühren sind dort an der Tagesordnung. An renommierten Unis wie Harvard, Stanford oder Yale können die Kosten für ein Studium in den sechsstelligen Bereich gehen.

Hinter der Aktion von Deloitte, PWC & Co. dürfte jedoch nicht nur der hehre Wunsch nach mehr Diversity im Unternehmen stehen – sondern auch pure Not: Denn viele Beratungsunternehmen, die nicht gerade für mitarbeiterfreundliche Arbeitsbedingungen bekannt sind, müssen sich mittlerweile offenbar mit einem spärlichen Bewerbungseingang herumplagen.

Erfahrungen mit anonymer Bewerbung in Deutschland

In Deutschland wurde die anonymisierte Bewerbung vor einigen Jahren schon einmal heiß diskutiert; Unternehmen wie L’Oreal, Mydays und die Deutsche Post setzten sie – zumindest zeitweise als Teilnehmer des Projekts der Antidiskriminierungsstelle des Bundes – ein.

L’Oreal und Mydays zog damals ein überwiegend positives Fazit. "Wir haben erkannt, dass das menschliche Moment zu Fehlern verleitet. Personaler und Personalerinnen glauben oft, Menschen aufgrund eines Fotos und einiger persönlicher Daten grob einschätzen zu können", sagte Melanie Koschorek, HR-Managerin bei Mydays, damals zum Projektabschluss. "Das Verfahren hat jedoch gezeigt, dass einige Bewerber insbesondere durch ein unglücklich gewähltes Foto vorschnell aussortiert werden. Menschen in der Postmoderne sind vielseitig – dies vermag ein Bewerbungsfoto nicht widerzuspiegeln", so die Mydays-Personalerin.

Kritik: kein Gesamtbild des Bewerbers

Doch die namenlosen Bewerbungen haben nicht nur Freunde: Manche äußern sich kritisch zum "Bewerber ohne Eigenschaften", der deutschen Personalern wohl noch mehr Umstellung abverlangt als ihren Kollegen aus dem englischen Sprachbereich: Denn dort haben auch in nicht-anonymisierten Bewerbungen persönliche Daten wie Geburtsdatum, -ort oder gar Namen und Berufe der Eltern nichts verloren, auch Bewerberbilder sind dort eher ungewöhnlich.

Olaf Kempin, Gründer und Mitinhaber des Personaldienstleisters Univativ, bringt einige Vorbehalte gegen die anonymisierte Bewerbung im Interview mit der FAZ auf den Punkt. Er kritisiert etwa, dass die Bewerber bei der anonymen Bewerbung nicht mehr die Möglichkeit hätten zu zeigen, wer sie sind. Dies mache eine "Gesamtwürdigung der Person" unmöglich – so müssten etwa, wenn in der ersten Bewerbungsrunde Informationen wie Wohnort, Verfügbarkeit, Interessen und Motivation fehlen, diese Informationen in einer zusätzlichen Schleife erfragt werden.

Erhöhter Admin-Aufwand, mehr Vorstellungsgespräche

Auch die Deutsche Post bemängelte einen gestiegenen Administrationsaufwand: "Durch die Anonymisierung der Bewerbungsunterlagen ergab sich ein zusätzlicher administrativer Schritt vor dem eigentlichen Auswahlverfahren. Das Schwärzen von Merkmalen war erwartungsgemäß aufwändig und nicht verhältnismäßig", heißt es etwa in einer Stellungnahme zum Ende des Projekts "Anonyme Bewerbungen". Das Pilotprojekt habe zudem kein zusätzliches Bewerberpotenzial erbracht.

Gerade für mittelständische Betriebe sei "die anonymisierte Bewerbung wegen des Mehraufwands kaum ein gangbarer Weg", glaubt Achim Dercks, Hauptgeschäftsführer Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK). Neben der Anonymisierung bedeute vor allem die steigende Zahl persönlicher Vorstellungsgespräche gerade für kleine und mittlere Unternehmen eine erhöhte zeitliche, personelle und finanzielle Belastung, sagte Dercks kürzlich gegenüber der "Bild"-Zeitung.

Mittel gegen Diskriminierung und für mehr Diversity

Trotz kritischer Stimmen aus der Praxis: Dass die anonyme Bewerbung tatsächlich ein wirksames Mittel gegen Diskriminierung und für mehr Diversity im Unternehmen sein kann, belegen beispielsweise die Forschungsergebnisse des Pilotprojekts "Anonyme Bewerbungen" des Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA).

"Das Pilotprojekt hat gezeigt, dass mit der Anonymisierung von Bewerbungsverfahren unbewusster oder bewusster Diskriminierung erfolgreich entgegengewirkt werden kann. Die Untersuchungen des IZA verdeutlichen, dass nach der Anonymisierung von Merkmalen wie Name, Geschlecht, Alter und Herkunft sowie dem Verzicht auf ein Bewerbungsfoto Chancengleichheit unter den Bewerbenden herrscht", so das Fazit von Ulf Rinne, der das Projekt wissenschaftlich begleitet hat. "Innerhalb der anonymisierten Bewerbungsverfahren haben also potenziell benachteiligte Gruppen die gleiche Chance auf eine Einladung zu Vorstellungsgespräch oder Eignungstest."

Die Studien deuteten darauf hin, dass die anonyme Bewerbung nicht nur die ethnische Diversität im Unternehmen steigern, sondern auch ein Mittel zur Frauenförderung sein könnte. Im Vergleich mit klassischen Bewerbungsverfahren gebe es nämlich auch Anzeichen dafür, dass Frauen von anonymisierten Bewerbungsverfahren besonders profitieren können, so Rinne.

Integration beginnt vor dem Sichten von Lebensläufen

Durch den aktuellen Zustrom von Flüchtlingen wird die Frage, wie sich alle Ethnien ohne Diskriminierungen in die Arbeitswelt integrieren lassen, immer dringender. Die anonyme Bewerbung könnte ein gutes Mittel zur Integration sein.

Eine jüngste Entscheidung des BAG zeigt, dass die Personaler damit schon beginnen können, bevor sie die ersten Bewerbungen sichten – indem sie etwa schon die Stellenausschreibung integrativ und nicht diskriminierend gestalten. Formulierungen wie "Deutsch als Muttersprache" sind dafür nicht nur nicht hilfreich, sondern auch nicht AGG-konform, wie die BAG-Richter jüngst urteilten.

Offenbar muss hier noch ein Umdenken stattfinden – und das nicht nur im eigentlichen Recruitingprozess. Das ist auch das Fazit von IZA-Projektbegleiter Rinne: Die anonyme Bewerbung sei kein Allheilmittel. "Chancengleichheit im Bewerbungsprozess kann die strukturellen Benachteiligungen einzelner Bevölkerungsgruppen etwa im Bildungsbereich oder bei Beförderungen nicht kompensieren. Dazu sind weitere Strategien notwendig – und möglich", so Rinne.

Großbritanniens Premier Cameron macht vor, wie solche Strategien aussehen können.


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Schlagworte zum Thema:  Recruiting, Diskriminierung, Diversity