Wie Sie das Potenzial von Migranten stärker ausschöpfen

Laut einem OECD-Bericht gehört Deutschland seit Kurzem in Sachen Zuwanderung zu den Gewinnern. Dennoch steckt die Rekrutierung von ausländischen Fachkräften im Ländervergleich noch in den Kinderschuhen. Wie Firmen die richtigen Weichen stellen, weiß Migrationsexperte Thomas Liebig.

Haufe Online-Redaktion: Deutschland war 2010/2011 das OECD-Land, das den größten Anstieg der Migration zu verzeichnen hatte – gegen den OECD-Trend. Warum ist Deutschland auf einmal so attraktiv für Migranten?

Thomas Liebig: Grundsätzlich ist Deutschland von einem sehr geringen Niveau in Sachen Migration gestartet. So war über Jahre hinweg die Zuwanderung nach Deutschland sehr gering. Bezogen auf die Bevölkerung beträgt die Migration nach wie vor nur die Hälfte des OECD-Durchschnitts. Der aktuelle Anstieg ist zum Teil durch die gute Arbeitsmarktsituation bedingt. Während die Wirtschafts- und Finanzkrise in vielen Ländern die arbeitsmarktbezogene Migration stark reduziert hat, konnte Deutschland eine gute wirtschaftliche Entwicklung vorweisen, was die Attraktivität gesteigert hat. Parallel macht sich auch der demografische Wandel auf dem Arbeitsmarkt mehr und mehr bemerkbar – mit der Folge, dass die Nachfrage nach qualifizierten Fachkräften, auch aus dem Ausland, deutlich zugenommen hat.

Haufe Online-Redaktion: Wie groß ist ungefähr der Anteil der qualifizierten Zuwanderer, die nach Deutschland kommen?

Liebig: So genau können wir dies nicht ausweisen. 60 Prozent der Migration nach Deutschland entfällt gegenwärtig auf Zuwanderer aus der erweiterten EU, die dauerhaft in Deutschland bleiben. 2010 waren das 133.000 Personen. Aus Drittstaaten kamen noch weitere 20.000 überwiegend hochqualifizierte Fachkräfte hinzu. Zusätzlich kamen 55.000 Familienmigranten und 12.000 Personen mit humanitären Status wie anerkannte Flüchtlinge, von denen auch viele über Universitätsabschlüsse verfügen, die sie jedoch häufig nicht im deutschen Arbeitsmarkt umsetzen können.

Haufe Online-Redaktion: Mit dem jetzigen Zuwanderungssaldo könnten die hierzulande bis 2020 fehlenden 4,4 Millionen Fachkräfte bei Weitem nicht ausgeglichen werden, gibt zum Beispiel  die Manpower Group in ihrer aktuellen Studie "Talent Shortage Survey 2012" zu bedenken.  Sehen Sie das ähnlich pessimistisch?

Liebig: Migration kann allein nicht das Allheilmittel zur Bewältigung der demografischen Herausforderungen sein. Es kann lediglich andere Maßnahmen – wie zum Beispiel verstärkte Ausbildungsbemühungen und die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung bestimmter Personengruppen wie Frauen, älteren Arbeitnehmern und Migranten – sinnvoll ergänzen. Deutschlands bisherige Strategie im Fachkräftemangel hat sich bislang in erster Linie auf die Mobilisierung des heimischen Fachkräftepotenzials fokussiert. Und zu diesem Potenzial gehören auch die vielen Migranten und deren Nachkommen, die sich bereits in Deutschland befinden. Rund  20 Prozent der Bevölkerung im Erwerbsalter zählen dazu.

Haufe Online-Redaktion: Wie können diese Personengruppen besser angesprochen und ins Unternehmen integriert werden?

Liebig: Manchmal reicht es schon, die richtigen Signale zu senden. Migranten müssen spüren, dass sie im Unternehmen willkommen sind. Hilfreich sind zum Beispiel Mitarbeiter-Mentorenprogramme für Neuankömmlinge, die nicht nur in den Betrieb, sondern auch in das soziale Leben in Deutschland einführen. Wichtig ist es vor allem, dass die Unternehmen über ihre Rekrutierungsmechanismen nachdenken, denn einige wichtige Kanäle – wie zum Beispiel persönliche Netzwerke – sind Migranten nur schwer zugänglich. Darüber hinaus könnten zu guter Letzt auch "Diversitäts-Berater" gerade bei klein- und mittelgroßen Unternehmen einen wertvollen Beitrag leisten. In Belgien funktioniert dieses Modell, das von den Sozialpartnern und den Arbeitsämtern getragen wird, beispielsweise sehr gut.

Haufe Online-Redaktion: Laut der Manpower-Studie scheitern 80 Prozent der Anwerbeversuche an zu hohen Anforderungen  der deutschen Unternehmen. Vor allem fehlende Sprachkenntnisse sind ein großes Hindernis. Inwiefern teilen Sie diese Beobachtung?

Liebig: Die deutsche Sprache ist sicher eine besondere Herausforderung. Jedoch sind hier auch die Unternehmen gefragt, das Erlernen des berufsspezifischen Vokabulars direkt am Arbeitsplatz zu fördern. Dies ist natürlich mit Kosten verbunden, aber auch als eine Investition in qualifiziertes Personal zu sehen. Unternehmen, die Unsicherheit über die Fähigkeiten von Migranten haben, könnten hierbei auch verstärkt auf "Schnupperpraktika" oder ähnliche Instrumente setzen, bei denen der Bewerber sein Können in der Praxis beweisen kann.

Das Interview führte Nicole Schrehardt.

Dr. Thomas Liebig ist Migrationsexperte im Arbeitsmarkt- und Sozialdirektorat der OECD.